Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
im Organismus, ein Bazillus im Operationssaal.
Ich fragte eine der Angestellten, eine hübsche Frau namens Cynthia, wo ich ins Internet könne. Sie beschrieb mir den Weg zur Stadtbücherei, keine Viertelmeile entfernt. Ich ging zu Fuß hin und sah in den Bulletin Boards nach. Nichts.
Ehe ich schließlich erschöpft einschlief, schaltete ich mein altes Handy ein und hörte die Mailbox ab. Delilah hatte eine Nachricht hinterlassen. »Stoß mich nicht so weg«, sagte sie. »Melde dich, bitte.«
Ich tat es nicht. Ich konnte es nicht. Ich musste konzentriert bleiben. Ich musste der sein, der ich immer war.
15
AM NÄCHSTEN MORGEN STAND ich um fünf Uhr auf, duschte, rasierte mich, stärkte mich mit Eiern und Kaffee im Hotelrestaurant und ging nach draußen. Unwahrscheinlich, dass Jannick oder sonst wer so früh zur Arbeit erscheinen würde, aber ich fuhr trotzdem als Erstes an seinem Firmenparkplatz vorbei. Danach hielt ich an dem Einkaufszentrum am anderen Ende der East Bayshore Road und ging in ein Starbucks. Ich bestellte einen Venti Latte, wobei ich mich fragte, weshalb sie den nicht einfach einen großen Milchkaffee nennen konnten, und kippte den Inhalt ein Stück vom Laden entfernt in einen Gully. Ich brauchte den Becher: erstens weil mir aufgefallen war, dass so gut wie jeder in Palo Alto mit einem Starbucks-Kaffee in der Hand unterwegs war und ich normaler wirken würde, wenn ich auch einen dabeihatte. Zweitens, und das war wichtiger, wusste ich nicht, wie lange ich auf Jannick würde warten müssen, und wenngleich vermutlich keiner auf einen friedlich parkenden Mercedes achten würde, könnte der Anblick eines Mannes, der wiederholt aus dem Wagen ausstieg, um am Straßenrand zu pinkeln, unangenehm auffallen.
Ich fuhr an Jannicks Haus vorbei. Noch immer stand kein Auto davor, aber ich vermutete es in der Garage. Die Sonne ließ sich gerade erst blicken, und das Haus war dunkel. Ich fuhr zur OPM und parkte an der Stelle, die ich mir ausgesucht hatte. Ich konnte zwar nicht das Haus sehen, aber ich würde mitkriegen, wenn er in die Page Mill Road bog.
Während ich wartete und Radio hörte – eine gewisse Alisa Clancy moderierte eine Sendung namens Morning Cup of Jazz –, fragte ich mich, wer Jannick eigentlich war. Ein Typ mit einem Talent für Hightech? Und woher rührte sein Ehrgeiz? Vermisste er seine niederländische Heimat, oder fühlte er sich inzwischen hier in der Stadt mit ihren Yoga-gelenkigen Leuten und sauber gepflegten Straßen zu Hause?
Es gab eine Frage, die ich mir nicht stellte, die ich aber auch nicht verdrängen konnte, nämlich ob er Familie hatte. Natürlich hatte er Familie. Das Haus war zu groß und zu vorstädtisch für einen allein. Und sein Auto, ein Volvo S 80, war die reinste Familienkutsche. Aber je weniger ich darüber wusste, desto besser. Etwas intellektuell zu begreifen ist eine Sache, es mit eigenen Augen zu sehen – nein, zu beobachten – eine ganz andere. Als ich das letzte Mal der Familie einer Zielperson zu nahe gekommen war, in Manila, war ich regelrecht erstarrt und wäre um ein Haar gestorben. In unbedachten Augenblicken dachte ich noch immer an den kleinen Jungen, dem ich den Vater genommen hatte. So etwas wollte ich nicht noch einmal durchmachen.
Ich wartete. Niemand störte mich. Ich musste den Motor auslassen, weil der Wagen im Leerlauf vielleicht Aufmerksamkeit erregt hätte. Im Inneren wurde es kalt, aber der Parka half. Der große Kaffeebecher bewährte sich.
Um kurz nach halb acht kam jemand auf einem Rad die Christopher Lane herunter und bog nach links in die OPM. Er trug einen weißen Helm und eine neongelbe Windjacke, die einerseits wärmte und andererseits für Autofahrer gut sichtbar war. Ich rutschte ein bisschen tiefer im Sitz, und während ich den Mann durch die Windschutzscheibe beobachtete, dachte ich, es wäre jemand beim Frühsport. Doch als er näher kam, wurde mir klar: Mein Gott, das könnte er sein. Ich war so auf den Volvo fixiert gewesen, dass ich einen Moment brauchte, um mich umzustellen. Er fuhr an mir vorbei, ohne den Mercedes eines genaueren Blickes zu würdigen. Ich hatte nur ein paar ältere Fotos von ihm gesehen, aber die Gesichtsform, die Brille … ich war mir ziemlich sicher, dass das Jannick war.
Verdammt, das Fahrrad veränderte alles. Trieb er bloß Frühsport, oder fuhr er zur Arbeit? Im letzteren Fall wusste ich nicht, welche Strecke er nehmen würde, und mit dem Wagen würde ich ihn ohnehin nicht gut verfolgen
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