Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
sagen, was sie wollte oder was sie machen würde, wenn Rain zurückkäme. Sie war sich bei gar nichts mehr sicher. Die einzige Ausnahme war ihr kleiner Sohn. Sie würde alles tun, um ihn zu beschützen. Absolut alles.
8
I CH BOG NACH LINKS AUF den Gehweg vom Waverly Place, ohne Plan oder Ziel. Ich wollte einfach nur gehen, in Bewegung bleiben.
Ich bekam das Bild von Koichiros Gesicht einfach nicht aus dem Kopf. Er war so klein, so unschuldig in seinem Schlaf. So hilflos.
Midori hatte gut daran getan, mich fernzuhalten. Der Gedanke, ich könnte meinen kleinen Sohn in Gefahr bringen, entsetzte mich.
Aber du kannst dich ändern, sagte ich mir. Vielleicht hast du das ja schon. Es gibt einen Weg nach draußen. Du musst ihn nur finden. Für Koichiro.
Ich ging weiter. Natürlich konnte ich einen Weg finden. Suchte ich denn nicht schon danach? Hatte Tatsu mir nicht immer erklärt, dass ich genau das brauchte? Was hatte er noch gesagt, als ich ihn zuletzt in Tokio gesehen hatte? Du weißt so gut wie ich, dass du eine persönliche Bindung brauchst, irgendetwas, das dich von dem Weg ins Nichts, auf dem du dich befindest, herunterreißt.
Na, vielleicht war es das ja jetzt, genau wie er behauptet hatte.
Ich hatte noch immer Midoris Duft in der Nase, ihren Geschmack auf den Lippen. Sie war zuerst aufgebracht gewesen, als sie mich sah, zugegeben, aber vorhin hatte sie die Tür offen gelassen, das stand außer Zweifel. Jetzt musste ich nur den richtigen Weg herausfinden, durch diese Tür hindurchzugehen. Ich dachte wieder an Koichiro. Gott, das könnte wirklich was werden. Ja, wirklich.
Als ich etwa fünf Meter vom Ende des Blocks entfernt war, hörte ich Schritte hinter der nächsten Ecke. Ich blickte auf und zack, ehe ich irgendetwas unternehmen konnte, kam Eddie Wong von der Tenth Street her direkt auf mich zu. Und ich hatte die Scheißperücke weggeworfen. Ich Idiot.
Wenn ich in diesem Augenblick ich selbst gewesen wäre, hätte ich effektiver reagieren können. Ich hätte das Gesicht abgewandt, meine Antenne eingezogen und wäre an ihm vorbeimarschiert, ohne dass er was gemerkt hätte.
Aber ich war nicht ich selbst. Mein Körper war zwar wieder auf der Straße, aber mein Kopf war noch immer in Midoris Wohnung, grub sich unter einer Lawine aus Hoffnungen ins Freie. Statt wegzuschauen, starrte ich ihn eine Sekunde lang direkt an, wie ein Mann, der die Augen einfach nicht vom Schauplatz eines grässlichen Unfalls abwenden kann.
Er sah mich auch an. Und der Ausdruck, der sich in seinem Gesicht verhärtete, bedeutete unweigerlich, dass er mich erkannt hatte. Ich begriff, dass er den gleichen Ausdruck auch bei mir sah.
Nein, dachte ich. Nein, verdammt, nein …
Wong wurde langsamer, während seine Gedanken sicherlich verzweifelt versuchten, sich auf das alles hier einen Reim zu machen. Sein Plan hatte vermutlich so ausgesehen, dass er mich unbemerkt aus der Deckung heraus sichten würde, nicht dass wir einander gleichzeitig erkannten. Sein Körper reagierte auf den unbewussten Wunsch, Zeit zu gewinnen, ein paar kostbare Sekunden mehr, um zu entscheiden, was er machen sollte.
Ich entschied mich schneller. Es war eigentlich keine Entscheidung, eher ein durch jahrzehntelanges Töten ausgebildeter Reflex. Ein Reflex, der durch meinen ungewohnten emotionalen Zustand verzögert worden war, der aber jetzt, da ich die Bedrohung für Midori und mein Kind begriff, mit Vehemenz einrastete.
Ich ging direkt auf ihn zu. Als die Entfernung kürzer wurde, verschwand seine rechte Hand in der Jackentasche, in der vermutlich das Balisong steckte, das er angeblich trug.
Es spricht einiges dafür, eine bestimmte Waffe zu bevorzugen und den Umgang damit regelmäßig zu üben. Es gibt aber auch einen Nachteil: Irgendwann bist du so auf diese Waffe fixiert, dass du selbst dann versuchst, danach zu greifen, wenn es besser wäre, irgendetwas anderes zu machen. Das ist der Grund, warum Cops oft von Messerstechern getötet werden, ihre Pistolen erst halb aus dem Holster gezogen. Der Cop sieht das Messer, aber er erkennt nicht, dass er keine Zeit hat, sie zu benutzen, eher er niedergestochen wird. Wenn jemand auf dich losgeht, ist es taktisch besser, erst einmal Distanz herzustellen oder den Angriff sonst wie zu verlangsamen und dann nach deiner Waffe zu greifen, damit du überhaupt eine Chance hast, sie zu benutzen.
Doch offenbar wusste Wong das alles nicht. Er griff nach seinem Balisong, und während er noch die Hand in der Tasche hatte, war
Weitere Kostenlose Bücher