Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
hasste, für das, was er ihrem Vater angetan hatte, für die Lügen, die er ihr anschließend aufgetischt hatte, für alles, was er war. Und doch hatte sie ihn keine zwei Minuten zuvor mit einer solchen Hingabe geküsst, dass ihr noch immer schwindelig war. Wie zum Teufel hatte sie sich durchringen können, ihn wegzuschicken? Einen Moment lang wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Dann schämte sie sich für den Gedanken.
Sie setzte sich auf die Couch, schloss die Augen und legte die Hände vors Gesicht. Seine Frage, was sie Koichiro später über seinen Vater erzählen wollte, hatte wehgetan. Sie hatte schon öfter darüber nachgedacht, natürlich, aber eine Antwort war ihr nicht eingefallen. Es war einfacher, das Problem hinauszuschieben, sich einzureden, sie würde schon die richtigen Worte finden, wenn Koichiro älter war.
Als sie damals festgestellt hatte, dass sie schwanger war, fühlte sie sich von ihrem Körper betrogen, wie eine Frau, die das Kind eines Soldaten trug, der sie im Krieg vergewaltigt hatte. Sie hatte einen Termin in einer Klinik vereinbart, entschlossen, die Schwangerschaft auf der Stelle abzubrechen und nie wieder darüber nachzudenken. Aber noch in derselben Nacht, als sie im Bett lag und an die Decke starrte und sich dabei mit einer Hand unbewusst über den Bauch streichelte, dachte sie, dass es vielleicht besser war, nichts zu überstürzen. Es war noch früh. Es konnte nichts schaden, ein paar Nächte darüber zu schlafen und sich dann nüchterner zu entscheiden.
Aber aus ein paar Nächten wurden viele. Sie grübelte endlos über die Umstände ihres Lebens nach. Sie liebte New York, ihre Auftritte hier, die Freiheit, die sie weit weg von Japan genoss. Und es war ein Leichtes, Männer kennenzulernen. Sie sah ihre bewundernden Blicke, wenn sie spielte, viele waren Stammgäste, und sie hörte bei ihnen das nervöse Timbre in der Stimme, wenn sie nach einem Konzert zu ihr kamen, um sich zu bedanken. Mit einigen Wenigen ging sie aus, doch keiner interessierte sie auf lange Sicht.
Aber nun war alles anders.
Sie glaubte an Schicksal, und das hier konnte nur Schicksal sein. Sie beschloss, einfach auf ihre Intuition zu hören. Und ihre Intuition sagte ihr, dass sie das Baby bekommen sollte.
Aber sie verspürte nicht den Wunsch, sich mit Rain in Verbindung zu setzen. Nicht nur wegen ihres Vaters. Sondern wegen dem, was Rain war. Als dann das Baby da war, verfestigte sich ihr Entschluss, ihm nie etwas davon zu erzählen. Sobald die Hebamme das winzige Kind aus ihrem gequälten, erschöpften Körper geholt hatte und sie es schreien hörte und es warm und glitschig in den Armen hielt, da wusste sie, dass sie ihn von der Gefahr fernhalten musste, die Rain verkörperte.
Und jetzt, da sie Koichiro hatte, konnte sie sich nichts anderes mehr vorstellen. Ihr Leben davor, so gut es auch gewesen war, kam ihr fast vor wie ein Traum, und bei dem Gedanken, dass sie beinahe abgetrieben hätte, wurde ihr regelrecht übel – als hätte sie einmal in einem schwachen Augenblick ernsthaft daran gedacht, ihr Kind zu ermorden. Sie hätte es nie für möglich gehalten, aber dieser kleine junge war das Wichtigste in ihrem Leben geworden.
Sie stand auf, ging ins Schlafzimmer und betrachtete den schlafenden Koichiro. Sie begriff, dass all ihr innerer Widerstand gegen Rain nur vorgeschoben war, eine hauchdünne Fassade, die gleich bei seinem ersten Auftauchen zusammengebrochen war. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, als wären ihre Gefühle für diesen Mann ein Verrat an ihrem Vater. Aber hätte ihr Vater gewollt, dass sie starb, ohne ihm Enkelkinder zu hinterlassen? Und hätte er gewollt, dass sein Enkel aufwuchs, ohne seinen Vater zu kennen? Gemessen an diesen Fragen war es doch wohl von geringer Bedeutung, wer Koichiros Vater war. Und richtig war auch, dass Rain versucht hatte, die Bemühungen ihres Vaters zu Ende zu führen und die Korruption innerhalb der Regierungsbehörden aufzudecken, sozusagen als Wiedergutmachung, ja, als seine Form der Buße für das, was er getan hatte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Vater irgendwie zu schätzen gewusst hätte, was Rain anschließend getan hatte. Dass er ihm vielleicht sogar … verziehen hätte.
Sie beugte sich hinunter und gab Koichiro einen Kuss auf die Stirn, richtete sich wieder auf und betrachtete ihn weiter. Rain mit ihrem gemeinsamen Kind im Arm zu sehen, ihn zum ersten Mal weinen zu sehen, hatte etwas in ihr berührt, das wusste sie. Aber sie konnte nicht
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