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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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Karte auseinander, fing die fischigen Reisreste mit einem anderen Blatt auf und ertrug das klebrig-zerfledderte Kaugummi - es saß ganz dicht am Zielgebäude. An der Rezeption des Unternehmens angekommen suchte ich in meiner Tasche nach den unvermeidlichen Visitenkarten. Dann fing ich den angewiderten Blick des Empfangsmädchens auf. Die Karte hatte ich vor ihre Nase auf den Tresen abgelegt. Zerknittert, mit Fischrogen und Kaugummi drauf.

    Um die großen Bahnhöfe herum nahmen mir glücklicherweise die Tunnel einen Teil der Suche nach dem Weg ab. Unter der Erde Tokios erstreckt sich ein weit verzweigtes System von Gängen. Der richtige Ausgang brachte einen meist schon ganz in die Nähe des Ziels.
    Es lohnte sich aber auch, einfach irgendeine Treppe hochzugehen. An fast jedem Ausgang lockten neue seltsame und
wunderbare Entdeckungen. Oft fand ich am U-Bahn-Ausgang wieder eine neue Straßenschlucht mit neonblinkenden Werbetafeln in Schriftzeichen. Anderswo stieß ich unerwartet auf einen alten Landschaftspark mit kleinen Steinbrücken über einem künstlichen Fluss.
    Die Tokioter U-Bahn-Stationen verzweigen sich unterirdisch wie Labyrinthe und machen dadurch an sich schon Spaß. Viele von ihnen reichen so weit, dass sie schon wieder in die nächste Station übergehen und mit unterirdischen Einkaufszentren verbunden sind. Als oben einmal Taifunregen niederprasselte, mir aber nach einem Spaziergang zumute war, ging ich unter der Erde am Hauptbahnhof los und über die Stationen Otemachi und Nijubashimae bis Hibiya, von dort weiter in den Bahnhof Ginza, der wiederum über einen Tunnel mit dem Bahnhof Ginza Ost verbunden ist. Jetzt war ich bereits zwei Kilometer gelaufen, ohne den Himmel zu sehen. An jedem dieser Bahnhöfe zweigen Durchgänge in Geschäftshäuser und Einkaufsparadiese ab.
    Nach einem Geschäftsessen mit einem Automanager verabschiedeten mein Gesprächspartner und ich uns in der Unterwelt des Bahnhofs Ginza. Ich zeigte auf einen Durchgang und sagte mit fester Stimme: »Ich muss jetzt da lang.« Takahashi-san zeigte in die entgegengesetzte Richtung und erklärte ebenso selbstsicher: »Bei mir geht es jetzt hier lang. Vielen Dank noch mal.« - »Bleiben Sie mir bitte geneigt!« - »Auch ich wünsche alles Gute für unsere weitere Zusammenarbeit.« Und so strebten wir los.
    In Wirklichkeit musste ich in eine andere Richtung. Doch die Sitten schreiben vor, sich klar zu trennen, damit der Termin ein vernünftiges Ende findet. Mit einem beruflichen Bekannten
will keiner noch die Zeit auf dem U-Bahnsteig und womöglich in einer vollen U-Bahn rumbringen. Ich bog also zügig zweimal ab, schlug einen kleinen Haken und strebte jetzt - immer noch unterirdisch - einen breiteren Gang entlang auf mein wirkliches Ziel zu.
    Da kam mir Takahashi-san entgegen. Er war vor mir von der anderen Seite her in dieselbe Hauptader eingebogen.
    Es folgten Momente, in denen ich hin und her gerissen war. Sofort wieder abbiegen und fliehen? Ihn wieder begrüßen? Oder …
    Takahashi-san machte es vor, ganz Einheimischer in Tokioter Umgangsformen. Er ignorierte mich. Wir gingen mit einem halben Meter Abstand aneinander vorbei und schauten dabei streng geradeaus, als würden wir uns nicht sehen. Dazu gehört eine ordentliche Portion der japanischen Fähigkeit, die Realität so wahrzunehmen, wie sie sein soll, statt wie sie wirklich ist.

    Tokio hat zwar vieles mit einem Spielplatz gemeinsam, aber es liegt nicht so übersichtlich ausgebreitet da - es will entdeckt werden. Als ich nach einigen Monaten dachte, die wichtigsten Gegenden endlich zu kennen - Ginza, Odaiba, Shinagawa, Roppongi, Shibuya, Shinjuku, Ikebukuro, Ueno -, fand ich dazwischen plötzlich viel nettere Ecken: Shimo-Kitazawa mit seinen Klamottenläden oder den Götterfreudenhügel Kagurazaka mit den vielen Bars und Restaurants.
    Beim Jogging am Sumida-Fluss entlang Richtung Hafen fand ich langgestreckte Parks mit elegant geschwungenen Brücken und einen Dekorationshafen, in dem eine holländische Kogge als Ausstellungsstück im Schlamm stand. Am
Ufer versammelten sich die Omas und Opas aus sämtlichen Zeichenkursen der Stadt und malten den Anblick im niederländischen Stil. Zu Fuß auf dem Weg von Akasaka Richtung Regierungsviertel, gewann die Stadt plötzlich europäische Lebensqualität im asiatischen Stil. Da standen die roten Tore von Schreinen zwanglos neben Cafés im Pariser Stil.
    Für mich war es täglich eine neue Freude, mich in diesem Tokio zu bewegen und es zu

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