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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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Illusion. Japaner lieben das Spiel mit der Realität. Regierungschef Koizumi Junichiro war auf George Bushs Ranch als Elvis verkleidet aufgetaucht, zum Schrecken des Gastgebers. Für solche Leute spricht eben auch nichts gegen eine ins Monströse vergrößerte und zugleich vereinfachte Version von Pu, dem Bären.
    Und wenn schon Disney, dann Tokio. Kenner von Vergnügungsparks sind sich einig, dass Japan das beste Disneyland der Welt hat. Die Mitarbeiter lächeln freundlicher, die Organisation läuft glatter als anderswo. Kein Wunder, denn im
Aufbau von Scheinwelten macht den Japanern keiner etwas vor.
    Die Schülerhorden hatten wir vermieden, aber mich wunderte immer wieder, was für Leute dorthin gingen. Bestimmt die Hälfte der Besucher war Ende zwanzig, Anfang dreißig. Viele Paare in diesem Alter kamen offenbar für ein Date her. Dazu kamen auch viele Endvierziger ohne Kinder. »Die hegen nostalgische Gefühle für den Park«, vermutete Akiko. »Darauf wird es bei Kenji auch hinauslaufen.«
    Der Betroffene hörte sie nicht. Kenji, 32 Jahre, in verantwortungsvoller Position bei einem Großunternehmen, ließ sich gerade mit einer Donald-Figur fotografieren. »Prima, der hat mir noch für meine Sammlung gefehlt«, kam er glücklich strahlend zu uns zurück gelaufen.

    In den ersten Monaten in Tokio verwendete ich täglich viele Stunden einfach nur darauf, pünktlich zu sein. Mein Abenteuerspielplatz zeigte sich plötzlich in stressiger Weise kompliziert. Viele Firmen, Ministerien oder Universitäten besuchte ich zum ersten Mal, und wenn ich den Weg nicht schon kannte, war ich aufgeschmissen. Im riesigen Tokioter U-Bahn-Netz fahren zwar alle Bahnen pünktlich, doch wer nach Ankunft zum falschen Ausgang hinausgeht, muss mehrere Kilometer Umweg in Kauf nehmen und verirrt sich fast sicher. Ich nahm immer eine Reserve von einer guten Stunde mit, und die brauchte ich auch.
    Auf dem Weg zu einem Mittelständler am Stadtrand stieg ich zunächst irrtümlich in einen Expresszug, der an meinem Ziel vorbeiraste und mich erst mehrere Kilometer weiter hinausließ. Schließlich am richtigen Bahnhof angekommen,
bemerkte ich etwas Schreckliches. Ich hatte den Lageplan nicht mitgenommen. Ohne Karte war es in Tokio unmöglich, eine Adresse zu finden. Die Straßen haben in Tokio keine Namen. Außerdem liegen die Hausnummern nicht nebeneinander. Auf Haus Nummer zwei folgt beispielsweise die Nummer 57.
    Ich starrte auf den Umgebungsplan im U-Bahnhof und versuchte, mir den Weg einzuprägen. Der Weg vom Bahnhof zum Ziel stellte sich als viel weiter heraus als gedacht. In dem Hochhaus musste ich zudem noch in den siebenundzwanzigsten Stock. Ich musste am Aufzug warten, während außer mir mehrere hundert Mitarbeiter anderer Unternehmen hinauffahren wollten. So ging die Stunde Reserve locker drauf. Um einen Termin um elf Uhr wahrzunehmen, ging ich um neun aus dem Haus.
    In einigen Fällen lief jedoch alles glatt, und ich war eine Stunde zu früh da. Dann machte ich, was die Japaner auch alle machen. Ich setzte mich in die nächste Filiale der allgegenwärtigen Kaffeeketten und wartete bis exakt sieben Minuten vor dem Termin. Ich erkannte beim Warten ein Muster. In der 23. und der 53. Minute jeder Stunde steht jeweils ein Dutzend Leute auf und eilt zum Ausgang der Filiale. In Japan gilt es als korrekt, genau fünf Minuten vor dem Termin einzutreffen. Nicht früher - das würde den Geschäftspartner unter Druck setzen. Nicht später - dann könnte das eigentliche Gespräch nicht exakt zur angegebenen Zeit beginnen.
    Trotz der allgemeinen Verlässlichkeit der Japaner war diese Arbeitsweise recht mühsam. Zwei Verabredungen pro Tag waren in dieser Zeit das Minimum, schließlich musste
ich mich in Tokio bekannt machen. Zwei Termine konnten bedeuten: anderthalb Stunden Anreise zum ersten Ort, eine Stunde Fahrtzeit dazwischen, dazu eine weitere halbe Stunde Reserve, mit der sich nicht so recht etwas anfangen ließ, und danach eine Stunde ins Büro zurück.
    Auf dem Weg zum Interview mit einem Finanzchef suchte ich hektisch nach dem Lageplan. Ich erinnerte mich diesmal daran, ihn sicher mitgenommen zu haben. Dann merkte ich es: Ich hatte den Zettel beim Umsteigen gedankenlos benutzt, um ein Kaugummi und die Reste eines Reisbällchens mit Fischrogenfüllung als Müll zu verpacken. (In Tokio gibt es keine öffentlichen Abfalleimer. Die Einwohner tragen ihre Bananenschalen stundenlang mit sich herum und entsorgen sie dann zu Hause.)
    Ich faltete die

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