Tokio Total - Mein Leben als Langnase
erkunden. Als Journalist hatte ich das Glück, ständig an neue Orte zu dürfen. Mal lud eine Bank in ein verwinkeltes kleines Museum für moderne Kunst ein, mal besichtigte ich neue Elektroprodukte im Computerviertel Akihabara, danach Mode im schicken Stadtteil Aoyoama.
In Yokohama aß ich mit Freunden im chinesischen Viertel Haifischflossensuppe. Ich hatte vergeblich versucht, sie mit Hinweis auf die Brutalität der Fangmethode von der Bestellung abzubringen. Schließlich aß ich mit und sagte mir, der Verzicht würde ohnehin keinen einzigen Hai retten. Die Asiaten sind in Asien klar in der Überzahl. (So hielt ich es dann auch mit Wal.) Anders als in den Chinatowns in Amerika wohnt in diesen Straßenzügen in Yokohama nicht wirklich die chinesische Gemeinschaft. Hier geht es ausschließlich ums Geschäft mit Touristen. Übertrieben chinesisch dekorierte Verkaufsstände für Dampfbrötchen mit Fleischfüllung und Andenkenkaufhäuser mit viel Rot und Gold an der Fassade reihen sich aneinander.
Ein anderer Ausflug führte mich zu der kleinen »Buchtinsel«, Enoshima, wo sich Steintreppchen einen Hügel hinauf vorbei an Buden für Räucherstäbchen zu einem kleinen Schrein winden. Wer bei einem Fest im Sommer dort dreimal
links, dreimal rechts herum durch einen großen Kranz aus Seilen geht, sichert sich Glück in der Familienplanung. Auf der Insel steht auch ein Leuchtturm mit Aussichtsplattform zum Fotografieren. Nur wenige Schritte weiter findet sich wie immer ein Komplex mit Geschäften und Restaurants und, klar, einem Videospielcenter. »Geschäfte und Restaurants«, das ist das häufigste Schild in der ganzen Stadt.
Hinter dem Ausbau Tokios als Spielplatz steht ein unbewusster Wille, das wurde mir auf meinen Fahrten durch die Stadt klar. Die Japaner wollen gar keine richtige Stadt, sie wollen einen Vergnügungspark. Viele kleine Entscheidungen von Bauherren und Stadträten fließen zusammen, um ein Gesamtkunstwerk zu schaffen - wie bei der Entstehung eines Ameisenhaufens. Asiaten verstehen Städte anders als Europäer. Tokio erfindet sich laufend neu. Dazu tragen sicher auch die häufigen Erdbeben bei. Altehrwürdige mittelalterliche Städte wie Regensburg gibt es schon deshalb nicht, weil regelmäßig alles in Schutt versinkt. Doch die Japaner warten nicht auf ihre Naturkatastrophen, um den Stadtumbau voranzutreiben. Wenn ein Haus zehn Jahre steht, kommen oft schon die Kräne für den Abriss. Gerade hat im Geschäftsviertel zwischen Hauptbahnhof und Kaiserpalast ein tolles neues Gebäude eröffnet, das vom Architekturstil her auf alte, rostige Bronzetöne macht und die Geschäfte und Restaurants in Pavillons wie zur Weltausstellung 1900 in Paris unterbringt. Was in Europa eine langfristige Attraktion wäre, muss hier in wenigen Jahren der nächsten Idee weichen - das ist in Japan von Anfang an klar.
Die reale Welt geht in Tokio oft unmerklich in Scheinwelten über - ohne dass die Japaner einen nennenswerten Unterschied
zwischen dem einen und dem anderen bemerken. Im Shoppingcenter »Sunshine City« in Ikebukuro gingen wir Teigtäschchen im chinesischen Stil essen, also so etwas wie Wan Tan in hundert Variationen. Die Gassen mit den Garküchen liegen jedoch tief in dem Gebäude verborgen in der fensterlosen Vergnügungswelt »Namja Town«. Sie imitiert die Atmosphäre asiatischer Städte wie Hong Kong und Tokio in den Dreißiger- oder vielleicht Fünfzigerjahren. Vor den Läden hängen rote Laternen. Hinter Vorhängen werkeln geschäftige Jungs im Yukata mit einem Tuch um die Stirn.
Das Geheimnis von Tokio liegt in der Ballung. Selbst an der Oranienburger Straße in Berlin, in der Kölner Altstadt oder auf dem Kiez in Hamburg drängen sich nicht so viele Menschen wie in Roppongi oder Shimo-Kitazawa. Ganz zu schweigen vom überfüllten Teenagerfavoriten Shibuya mit seinen meterhohen Leuchtreklamen und versteckten Technoclubs. Oder den edleren Diskotheken von Aoyama, in die der Mittdreißiger geht, nachdem er seine Freundin zu einem Dinner im benachbarten Luxusviertel Omotesando eingeladen hat.
Die Energie des ganzen Landes mit 125 Millionen Einwohnern konzentriert sich auf die Tokioter Innenstadt mit einem Durchmesser von dreißig Kilometern. Selbst innerhalb des Molochs sammelt sich alles noch an bestimmten Orten. Die S-Bahnen sind morgens bis exakt halb zehn vollgepackt wie eine Box mit Sushi, wie der Japaner sagt. In den Stunden darauf findet sich in den meisten Linien bequem ein Sitzplatz, bis abends
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