Tokio Total - Mein Leben als Langnase
breiten Kreuz ausgestattet. Aus ihrem schulterfreien tiefschwarzen Kleid mit silbernen Sternchen
ragte ein kräftiger Oberkörper hervor. »Ich nehme jeden Tag Hormone«, sagte sie stolz.
Als Yamahira-san auf dem Klo war, nutzte ich meine Stellung als Ausländer und stellte dumme Fragen. »Yuka, sag mal, warum kommen diese Büroangestellten her?«
»Weil wir biologische Männer sind.«
»Hä?«
»Unsere Kunden haben alle eine Frau zu Hause.«
»Und?«
»Die können nicht einfach in eine Strip-Bar oder so gehen.«
»Nein, natürlich nicht«, behauptete ich und dachte an all die verheirateten Männer, die Shinjukus Strip-Bars bevölkern.
»Also gehen sie in eine Bar, wo nur Männer sind!«, vollendete Yuka ihre Erklärung.
»Damit sie zu Hause sagen könnnen …«
»… dass sie nur mit Kumpels in einer Bar voller Männer waren, genau.«
Noch hatte ich den Laden nicht ganz eingeordnet.
»Dann sind deine Kunden ausschließlich …«
»Ganz normale Hetero-Männer. Ein Schwuler würde niemals den Fuß über die Tür setzen. Die gehen gaaaaanz woanders hin. Aber da kommt Yamahira zurück. Yamahirashachô, wie haben sooo auf dich gewartet«, flötete Yuka, fasste ihn um die Hüfte und zog ihn wieder auf unsere Sofabank herunter.
Kurz darauf verschwand Yuka durch eine Seitentür neben der Bühne, und Sayaka fuhr alleine fort, uns Whiskey aus einer neutralen Glaskaraffe nachzuschenken.
»Wie alt bis du, Sayaka-chan?«, fragte Yamahira-san.
»Ich bin 18, aber ich darf schon hier arbeiten, wenn ich keinen Alkohol trinke«, erklärte der Junge im pinkfarbenen Rüschenrock mit langen Haaren, künstlichen Wimpern und einem tiefen, wenn auch völlig flachen Dekolleté. So sah Heterosexualität also in den grauen Bürostraßen Gotandas aus.
Dann ging auf der Bühne die Show los. Yuka und vier andere Mitarbeiterinnen tanzten etwas unsynchron zur Musik, zeigten viel Bein, wedelten mit Federboas und sangen japanische Chansons.
Als wir eine Stunde später und je 80 Euro ärmer (Yamahira-san bekam erheblichen Rabatt) wieder vor der Tür standen, fragte ich ihn: »Kommst du öfter hierher?«
»Ja, mit Leuten aus der Industrie, die auf so was stehen. Die lassen sich gerne zu ein bisschen Wasserhandel einladen.«
»Wasserhandel«, Mizushôbai, nennen die Japaner die Halbwelt der Hostessen-Bars und kleinen Cabarets. Die meisten davon sammeln sich im Rotlichtviertel von Shinjuku, dem »Sing-Tanz-Kunst-Viertel«, japanisch Kabukicho. Doch die Hostessen-Bars nisten auch überall sonst, wo viele zahlungskräftige Kunden oder Kundinnen vorbeikommen. In einigen der Etablissements unterhalten beispielsweise junge Männer einsame Frauen. In Kabukicho zeigen haushohe Werbetafeln die Gesichter dieser Hosts mit ihren Vornamen unter dem Logo ihrer Clubs mit Namen wie »Tokyo Feel« oder »Gently«. Dafür, dass sich das Angebot an erwachsene Frauen wendet, sehen die Jungs überraschend jugendlich aus, aber sanfte und niedliche Gesichter kommen anscheinend gut an.
Ausdrücklich an verheiratete Frauen richten sich Bars, in denen als Jungen verkleidete Frauen arbeiten - das Gegenstück zum Dazzling. Dazu gehört zum Beispiel der »O-Nabe-Kurabu« in Shinjuku-Ost. Ursprünglich männliche Transvestiten heißen Kama, »Ofen«, Frauen in Männerrollen heißen Nabe, »Topf«.
Andere Etablissements bieten als Attraktion westliche junge Frauen als Hostessen an. Da gehen dann Männer hin und zahlen mehrere hundert Euro dafür, dass ihnen eine Russin die Zigarette anzündet. Hostessen-Bars seien keine Orte der Prostitution, versicherte Yamahira-san. »Es ist wie mit einem Schild ›Massage-Salon‹. In den allermeisten Läden gibt es wirklich nur eine Massage. Wenn die Hostessen allerdings Filipinas sind, oder der Laden in bestimmten Straßen in Kabukicho liegt, dann bieten sie wahrscheinlich weiterreichende Dienstleistungen an.« In Gotanda suchen die Kunden jedoch nur Aufmerksamkeit und angenehme Gespräche in einer ganz anderen Welt als der Firma oder dem engen Zuhause.
Nicht dass es so was auf der Reeperbahn nicht auch geben könnte, aber in Japan sind solche Animierbars viel verbreiteter. In Tokio wohnen 20 Millionen Menschen, aber erschreckend viele von ihnen scheinen sich Zuwendung erkaufen zu müssen. Manche junge Büroangestellte hat schon ihr ganzes Gehalt in eine Host-Bar getragen. Denn in der Scheinwelt des Wasserhandels lassen sich die Kunden und Kundinnen leicht überreden, Champagner für alle zu spendieren bis in die
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