Tokio Total - Mein Leben als Langnase
alle gewartet hatten: der Erdbebensimulator. Auf einer beweglichen Platte stand eine nachgebaute Küche. Zu viert saßen wir Teilnehmer am Tisch, als die Erschütterungen losgingen. Durch das nachgemachte Fenster wurden Angstschreie und das Geräusch von berstendem Glas eingespielt. Jetzt mussten wir abspulen, was wir vorher geübt hatten: Gas aus, Tür auf und sichern, Kissen auf den Kopf, unter dem Tisch in Deckung gehen, bis die Schwankungen vorbei waren. Wir wildfremden vier Leute rückten unter dem Tisch eng zusammen, als die Maschine dann in den höheren Gang schaltete und die Küche so richtig kräftig durchrüttelte. Und das war nur ein Beben der Stärke sechs. Auch acht oder neun sind in Tokio möglich.
Die Ratschläge meiner örtlichen Sauna für den Fall von Erdbeben zeugten von der Kaltblütigkeit der Japaner im Umgang mit Naturkatastrophen: »Versuchen Sie nicht, Ihre Kleidung mitzunehmen, und verlassen Sie umgehend das
Gebäude. Trocknen Sie sich nicht ab. Wenn Sie nass sind, umso besser - das schützt vor Verbrennungen.«
Ähnlich fielen die Tipps eines Bordellbesitzers für seine Kunden im Fall eines Bebens aus, wie das Hochglanzmagazin »Spa« einst berichtete. »Machen Sie, dass Sie aus dem Gebäude fliehen. Kleidung ist nicht so wichtig, aber nehmen Sie wegen der Glasscherben die Schuhe mit.« Ich stellte mir die Straßen im Vergnügungsviertel Kabukicho nach einem Beben um ein Uhr nachts vor: lauter nackte Firmenangestellte in Schuhen.
Der Zuhälter hatte noch einen anderen wichtigen Hinweis parat: »Unsere Girls helfen sich selbst. Versuchen Sie keinesfalls, den Helden zu spielen und das Mädchen zu retten!«
Tokio extrem oder Büstenhalter unterm Businesshemd
Die Nipponesen neigen zu Extremen. Wenn sie sich einmal auf eine Vorliebe festgelegt haben, gibt es kein Zurück. Deshalb pflegen sie ihre skurrilen Hobbies oder sexuellen Fetische so konsequent. Andererseits sind sie in der Wahl ihrer Rolle flexibler. Der brave Büroangestellte kann nach Feierabend eine erschreckende Nachtseite haben. Und keiner denkt sich was dabei. Wo der Deutsche anfangs immer schwer an Bedenken trägt, legen die Japaner einfach los - vor allem bei der Einführung neuer Technik. Die älteren Damen und Herren freuen sich bereits auf ihren Pflegeroboter.
Viele extreme Japaner lernte ich über Yamahira-san kennen, der mir am Tisch auch die Eingeweide weggezogen hatte. Er arbeitete als Reporter für ein gemischtes Magazin und recherchierte von ernsthaften Politikgeschichten bis zu Busenwunder-Knallern über alles und jeden. Yamahira-san versammelte immer vier oder fünf Kollegen und Informanten um sich und blieb über den Zweittreff, den Dritttreff und den Vierttreff hinaus bis früh morgens auf der Piste. Dafür tauchte er oft erst gegen 16 Uhr in der Redaktion auf, wie mir eine Kollegin verraten hatte.
»Jetzt gehen wir mal in eine besondere Bar, einen meiner
Lieblingsplätze. Aber macht euch auf alles gefasst«, sagte er nach einem Vierttreff und zwinkerte dazu sogar noch.
Das »Dazzling« lag in einer Seitenstraße hinter dem S-Bahnhof Gotanda, im südlichen Teil Tokios. Vor dem S-Bahnhof blinkten die Reklamen der üblichen Schnellimbissketten. Der halbdurchsichtige Glasquader des Hauptquartiers von Sony lag nur wenige Minuten entfernt.
Im dritten Stock trat ich als Erster aus dem engen Aufzug in den Vorraum des Dazzling. Links und rechts fand sich eine europäisierende Dekoration aus gedrechseltem Holz und Heiligenbildern. Um die Ecke im Laden selbst gruppierten sich Tische auf drei Ebenen vor einer Bühne, etwas zu hell ausgeleuchtet für einen verruchten Nachtclub. An den besetzten Tischen saßen Büroangestellte, die sich von Transvestiten bedienen ließen. Die Anzugträger lachten hier endlich mal richtig gelöst und heiter. Der Meister des Etablissements - im Smoking mit Fliege - begrüßte Yamahira-san als Stammkunden und wies uns Yuka und Sayaka als Hostessen zu.
Die beiden jungen Männer wollten auch körperlich Frauen werden - so schnell wie möglich. »Ich stehe kurz vor meiner Operation!«, erzählte Yuka stolz. »Bald lasse ich mir endlich die Eier abschneiden!« Vorher hatten Yamahira-san und ich uns von den beiden Whiskey eingießen lassen. Sayaka und Yuka waren eigentlich Namen von Popsängerinnen, die sie für ihre Rolle in der Halbwelt angenommen hatten. Sayaka saß recht zierlich da und hätte unter Umständen tatsächlich als Frau durchgehen können. Yuka dagegen hatte die Natur mit einem
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