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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jake Adelstein
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Informationen geliefert. Wichtig war nun herausfinden, an wen er sich wohl als Erstes wenden würde.
    Ich musste unverzüglich damit anfangen, für Schadensbegrenzung zu sorgen, Also holte ich meine Schachtel mit Visitenkarten, breitete alle Karten auf dem Fußboden aus, öffnete meinen Laptop und schrieb alle Namen ab, die ich in meinem Handy gespeichert hatte. Ich erstellte eine Rangliste meiner am meisten gefährdeten Freunde. Da ich keine Liste meiner Telefongespräche besaß, durchsuchte ich meine E-Mails der letzten zwei Monate und versuchte zu rekonstruieren, wo und bei wem ich gewesen war.
    Unter den vielen Visitenkarten war auch die von Helena – eingerissen, verblasst und zerknittert, weil ich sie immer wieder in meine Brieftasche gestopft und wieder herausgeholt hatte.
    Ich weiß noch, wann sie mir die Karte gab. Ich hatte sie mir verdienen müssen. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich Helena meine Karte gegeben, aber erst beim dritten oder vierten Treffen hatte sie so viel Vertrauen zu mir, dass sie mir ihren richtigen Namen verriet. Sie parodierte geschickt eine japanische Verbeugung und überreichte mir ihre Karte mit beiden Händen. »Helena«, sagte sie dabei, »eine Hure, aber keine gewöhnliche – eine professionelle Hure.« Sie lachte und ihre Augen blitzten, so sehr amüsierte sie sich über ihren Scherz.
    Ich habe immer ein Tagebuch geführt, wenn auch nicht immer ganz exakt. Das ist hilfreich, weil wir Reporter so viel vergessen. Wir begegnen so vielen Leuten, schreiben über so viele Tragödien, verfassen so viele Artikel, dass wir uns kaum merken können, was alles passiert und wo wir überall gewesen sind. Aber manche Gegenstände wecken mehr Erinnerungen als ein Tagebuch in Telefonbuchformat. Die Visitenkarte in meiner Hand weckte unzählig viele Erinnerungen in mir.
    Ich vermisste meine Gespräche mit Helena plötzlich so sehr, dass ich ein paar Sekunden lang kaum atmen konnte.
    Am liebsten hätte ich nicht mehr an sie gedacht, aber ich konnte nicht anders.
    Hätte ich im Jahr 2005 nicht nachgegeben, wäre Goto vielleicht entmachtet worden, und all das wäre und würde nicht geschehen. Damals schien es mir die richtige Entscheidung zu sein. Ein strategischer Rückzug. Aber war es das wirklich gewesen? War es nicht Feigheit oder einfach Faulheit? Ich spiele diesen Augenblick immer wieder durch.
    Dann beschloss ich, dass ich jetzt alles tun musste, um Goto das Handwerk zu legen. Ich hatte es satt wegzulaufen. Realistisch betrachtet hatte ich nicht viel. Ich konnte weder auf 900 Leute zurückgreifen, die für mich arbeiteten, noch auf mehrere Millionen auf versteckten Bankkonten. Aber ich hatte einige gute Freunde, ein paar Informationen, Kontakte und eine Menge Wut.
    Doch bevor ich etwas unternehmen konnte, musste ich ein paar Leute anrufen und einige E-Mails verschicken. Viele Leute waren nicht gerade sehr erfreut über das, was ich ihnen zu sagen hatte. Einige kündigten mir sogar die Freundschaft. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mir das egal gewesen sei. Aber ich konnte sie verstehen, weil Freundschaft normalerweise nicht bedeutet, zur menschlichen Zielscheibe zu werden.
    Schließlich schrieb ich den Artikel.
    Es schien mir ganz einfach: Schreib oder stirb!
    Doch das Problem war, dass niemand meinen Artikel veröffentlichen wollte. Nicht einmal die Leute, auf die ich ganz fest gezählt hatte.
    »Die Sache ist zu alt.« »Wir wollen die Nationale Polizeibehörde nicht verärgern – die stünde schließlich ziemlich dumm da, wenn wir das drucken würden.« »Ich glaube nicht, dass das FBI bereit ist, das zu bestätigen.« Eine Zeitung schien interessiert sein, aber ihr ging es letztlich nur darum, dem FBI eins auszuwischen, und das brachte meiner Meinung nach nichts. Außerdem fand ich, dass das FBI mit dem Handel keinen Fehler begangen hatte, und wollte Jim nicht lächerlich machen. Das konnte ich nicht zulassen.
    Nur der Chefredakteur eines Verlages war ehrlich zu mir. »Das ist ziemlich gefährliches Material. Wenn wir das herausbringen, kriegen wir es nicht nur mit Gotos Anwälten zu tun, sondern wir müssen ein Vermögen für ein besseres Sicherheitssystem ausgeben. Denn er wird ganz bestimmt zurückschlagen. Menschen werden darunter leiden. Vielleicht lässt er Brandbomben in unsere Büros werfen. Außerdem drucken wir einiges für die Soko Gakkai, und Goto würde uns diese Verträge kündigen. Tut mir leid.«
    Das war wohl die schlimmste Zeit in meinem Leben.

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