Tokio Vice
– denn alle gingen dorthin. Einige Mädchen schnüffelten in den Kabinen Kokain. Dorcy plauderte dort mit Jesse, einer Australierin, die mit Tätowierungen bedeckt war. Sie hatte zwei Fotos von Obara gesehen, beide in den Händen von Polizisten. Sie kannte Lucies Exfreund Nick und gab Dorcy seine Anschrift.
Er wohnte an der Ecke neben einer Buchhandlung, die seit Langem geschlossen war, und verteilte Prospekte für einen Nachtclub, in dem hinter der Theke Ecstasy verkauft wurde. Ich fragte ihn, wann er Lucie zum letzten Mal gesehen habe.
Mit starkem australischen Akzent antwortete er: »Sie müssen Reporter sein. Wenn Sie etwas über Lucie erfahren wollen, dann lassen Sie Bares rüberwandern.«
Ich gab ihm also 5000 Yen und zeigte ihm die Phantomzeichnung von Obara. Aber er erkannte ihn nicht. Ich erzählte ihm, dass ich Geld für ein Foto von Obara zahlen würde, und ging zurück in den »Seventh Heaven«.
Layla, eine schwedische Studentin, die an der Sophia University Japanisch studierte, verteilte Handzettel für den Club. Ich hatte sie bei einem Treffen ehemaliger Studenten kennengelernt, daher wusste sie, dass ich Reporter war. Mit ihrer Größe von 1,80 Meter und dem langen, platinblonden Haar war sie nicht zu übersehen. Sie arbeitete nicht als Stripperin, sondern als Kellnerin, und manchmal lockte sie auch Kunden in den Club. Sie gab mir eine Liste der Clubs, die die Polizei an diesem Tag aufgesucht hatte. Da Layla japanisch sprach und genau darauf achtete, was die anderen Mädchen sagten, war sie eine sehr ergiebige Quelle.
Ich dankte ihr für die Liste, und sie winkte mich in ein kleines Café in der Nähe.
»Jake«, sagte sie, »eine Menge Leute wissen schon, dass du Reporter bist. Sei vorsichtig. Die Leute kennen dein Gesicht. Warst du übrigens schon im ›Club Codex‹? Ich habe gehört, dass eines der Opfer dort gearbeitet hat.«
Dann nannte sie mir noch einen Namen: Melissa. Melissa hatte mit Lucie im Club gearbeitet. Layla hatte sich lange mit ihr unterhalten und erzählte mir nun, was sie dabei erfahren hatte.
Melissa hatte gesehen, wie Lucie eine Woche vor ihrem Verschwinden im »Club Casablanca« mit einem langhaarigen Mann gesprochen hatte. Der Mann hatte sehr reich ausgesehen, hatte teuren Brandy und Champagner bestellt und sich fast drei Stunden lang überaus freundlich mit Lucie unterhalten. Er hatte bar bezahlt.
Offenbar hasste er es, wenn man japanisch mit ihm sprach, denn dann zog er eine schreckliche Grimasse. Er zog es wohl vor, englisch zu sprechen.
Die Polizei hatte Melissa mehrere Male nach diesem Kunden und seiner Beziehung zu Lucie gefragt. Melissa arbeitete jetzt nicht mehr in Roppongi. Da sie nicht das richtige Visum hatte, fürchtete sie, nachdem die Polizei sie vernommen hatte, abgeschoben zu werden, wenn sie nicht vorsichtig war.
Ich dankte Layla überschwänglich, denn jetzt wusste ich, was auch die Polizei wusste: Lucie und Obara hatten einander getroffen, und es gab Zeugen dafür. Er würde es also nicht bestreiten können. Ich rief sofort Yamamoto an und berichtete ihm davon. Meine Informationen reichten immerhin für eine große Schlagzeile, was genügte, um meine enormen Ausgaben in Roppongi zu rechtfertigen. Der Artikel verärgerte natürlich die Polizei, die Obara hatte überraschen wollen. Die anderen Zeitungen berichteten etwa eine Woche später darüber.
Als ich um drei Uhr morgens nach Hause kam, schrie sich Beni die Seele aus dem Leib. Sunao sah völlig erschöpft aus. Sie hielt Beni im Arm und ging hin und her, um sie zu beruhigen. Also nahm ich ihr Beni ab und hielt sie in den Armen, während ich mir vorsichtig auf dem Stepper die Beine vertrat und der Ghettoblaster leise die größten Hits von U2 spielte. Bald begann Beni zu gähnen und schloss die Augen. Sie hatte immer noch kein einziges Haar, und ihre Augen waren derart geschwollen, dass man nur ihre schwarzen Pupillen sah, aber das war mir egal. Sie war mein eigenes Fleisch und Blut.
Während ich sie so im Arm hielt, musste ich an Tim und Jane Blackman denken. Auch sie hatten bestimmt ähnliche Erinnerungen an Lucie.
Dann wanderten meine Gedanken zu Obara und ich bekam Magenschmerzen. Jetzt, da ich selbst ein Kind hatte, nahm mich diese Geschichte noch mehr mit, was für einen Reporter nicht gerade gut ist. Denn wenn einem solche Fälle zu nahe gehen, werden sie zu einer Belastung.
Nachdem ich Beni neben Sunao auf den Futon gelegt hatte, rief ich noch Dai Davies an, einen Privatdetektiv, den
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