Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
Geister machen mir nichts aus. Ich möchte hier wohnen.«
    Er bot nicht an, meine Tasche zu tragen, aber ich hätte sowieso nicht gewusst, wie ich hätte reagieren sollen, wenn er es getan hätte. Ich folgte ihm die Treppe hinauf. Unsere Schritte hallten auf der gusseisernen Stiege.
    »Das Erdgeschoss ist abgeriegelt«, erklärte er und deutete mit der Bierdose auf die mit Brettern vernagelten Fenster. »Es gibt keinen Weg hinein. Wir wohnen oben, und du kommst nur über diese Treppe rein und raus.«
    Am Ende der Treppe blieben wir stehen. Wir befanden uns
    an der Ecke des Hauses in einer schummrigen Galerie, die sich in rechten Winkeln zur Linken und Rechten von uns erstreckte. Ich konnte vielleicht fünf Meter in beide Richtungen sehen, dann schienen die langen, staubigen Korridore sich zu verjüngen, so als würden sie in der Ferne in kühle, schattige Viertel Tokios münden. Es war früher Nachmittag, und im Haus herrschte völlige Stille.
    »Der größte Teil des Hauses ist abgesperrt. Der Immobilienboom ist so gut wie tot, seit die Wirtschaft auf Talfahrt gegangen ist, aber der Vermieter versucht immer noch, den Kasten an einen Spekulanten zu verscherbeln. Wenn's klappt, wollen sie das ganze Ding abreißen und noch ein Hochhaus bauen, deshalb ist die Miete praktisch nada.« Jason stieg aus seinen Stiefeln. »Natürlich muss man sich damit abfinden, dass der Laden um einen herum zusammenfällt.« Er deutete vage auf den Korridor rechter Hand. »Die Mädchen wohnen da unten - in dem Flügel. Sie liegen den ganzen Tag im Bett. Es sind Russinnen. Jetzt, wo die Zwingertür plötzlich offen steht, überschwemmen die Russen den ganzen Planeten. Hat sich noch nicht zu denen rumgesprochen, dass Japan das sinkende Schiff in einer Rezession ist. Hier ...« Er schob mir ein Paar abgewetzte Sisalpantof-feln hin und schaute zu, während ich meine derben Schnürschuhe auszog und mit meinen bestrumpften Füßen in die Pantoffeln schlüpfte. »Tun dir die Dinger nicht weh?« Er deutete auf die Schuhe. »Die sehen echt unbequem aus.«
    »Ja. Ich habe Blasen.«
    »Hast du denn keine anderen Schuhe?«
    »Nein.«
    »Was schleppst du denn in deiner Tasche herum? Sie sieht schwer aus.« »Bücher«, antwortete ich.
    »Bücher?« »Ja.«
    »Was für Bücher?« »Bücher mit Bildern.«
    Jason lachte. Er zündete sich eine Zigarette an und musterte mich amüsiert. Ich zupfte meine Strickjacke zurecht und strich mir mit flachen Händen das Haar glatt. Das brachte ihn von neuem zum Lachen. »Also«, sagte er, »wie heißt du?«
    »Grey.«
    »Grey? Was für ein Name ist das denn?«
    Ich zögerte. Es war so seltsam, an einem Ort zu sein, wo niemand mich kannte. Ich holte tief Luft und versuchte, gelassen zu klingen. »Das ist mein Nachname. Alle nennen mich immer bei meinem Nachnamen.«
    Jason führte mich den Korridor rechter Hand entlang, wobei er immer wieder stehen blieb, um mir Dinge zu zeigen. Das Haus hatte eine eigenartig weiche, organische Atmosphäre - die Böden waren mit Tafami-Strohmatten bedeckt, und jede Bewegung setzte den flüchtigen Geruch von Insektenkokons frei. Von einer Seite des Korridors gingen Zimmer ab; auf der anderen verdeckten von Taillenhöhe an lädierte hölzerne Fensterläden die Wände.
    »Das Badezimmer ist traditionell, das heißt, man hockt sich über ein Loch im Boden, ja? Meinst du, dass du das kannst?«
    Er musterte mich von oben bis unten. »In der Hocke aufs Klo gehen? Dich in einem Zuber waschen? Das ist schließlich der Sinn davon, in Japan zu leben - die Dinge anders zu machen.«
    Bevor ich antworten konnte, wandte er sich zur anderen Seite des Korridors um und schob einen Fensterladen auf. Sonnenlicht flutete durch schmutziges Glas. »Die Klimaanlage ist im Arsch, darum muss man die im Sommer den ganzen Tag über geschlossen lassen.«
    Wir standen am Fenster und blickten hinab in den hinterhofgleichen Garten. Er sah üppig wie ein Dschungel aus, wucherte über die Erdgeschossfenster hinaus, ein ungebärdiges Gestrüpp aus Dattelpflaumenbäumen und dicken Blättern, die die Wände aufbrachen und das Sonnenlicht schluckten. Ich legte meine Hände an die Scheibe, drückte meine Nase an das Glas und starrte hinaus. Am Fuß des Gartens ragte die Rückseite eines weißen Wolkenkratzers auf.
    »Das Salt-Gebäude«, erklärte Jason. »Keine Ahnung, warum es so heißt.«
    Ich wollte mich gerade abwenden, als ich fast dreißig Meter entfernt über den Baumwipfeln ein in der Hitze flirrendes rotes

Weitere Kostenlose Bücher