Tokio
Ziegeldach entdeckte.
»Was ist das?«
»Das?« Er presste seine Nase an die Scheibe. »Das ist der dritte Flügel. Ist auch abgesperrt.« »Das ist ein Teil dieses Hauses?«
»Richtig. Wir verdienen eine eigene Postleitzahl. Der Verbotene Palast. Es gibt vielleicht zwanzig Zimmer in diesem Laden, von denen ich mit Sicherheit weiß, dass sie existieren, und noch mal zwanzig, von denen man nur gerüchteweise hört.«
Ich konnte jetzt erkennen, wie viel Fläche das Haus einnahm. Es erstreckte sich fast über einen ganzen Block und schloss an drei Seiten den Garten ein. Von oben würde es wie eine Brücke wirken, mit dem Salt-Gebäude als Abschluss an der vierten Seite. Das Haus verfiel; im hintersten Flügel breitete sich Fäule aus, und Jason meinte, dass er sich gar nicht ausmalen mochte, wie es in den abgesperrten Räumen im Erdgeschoss aussah. »Da spuken Gespenster herum«, sagte er und verdrehte die Augen. »Zumindest behaupten das die Bafra-yaga -Zwillinge.«
Wir kamen an unzähligen Shoi-Schiebetüren vorbei, einige geschlossen, andere offen stehend. Ich erhaschte flüchtige Blicke auf Habseligkeiten in dunklen Zimmern, auf aufgetürmte Möbel, staubbedeckt und vergessen - ein Teakholz-Butsudan, ein buddhistischer Ahnenschrein, leer bis auf verstaubte Glaskrüge. Meine Pantoffeln klatschten laut in der Stille. Aus dem Dämmerlicht vor uns tauchte die Tür zum abgesperrten Flügel auf, verriegelt mit einem Vorhängeschloss und einer Eisenstange. Jason blieb vor der Barrikade stehen.
»Das hier ist tabu.« Er hielt seine Nase dicht an die Tür und schnüffelte. »Mein Gott, in der Hitze ist der Gestank echt heftig.« Er fuhr sich über die Stirn, drehte sich um und tippte an die letzte Tür im Korridor. »Keine Sorge, hier kriegst du davon nichts mit - das hier wäre dein Zimmer.«
Er schob die Tür auf. Sonnenschein flutete durch ein schmutziges Laken, das man mit Reißzwecken rechtwinklig über zwei Fenster gespannt hatte. Die Wände waren einstmals mit hellbrauner Seide verkleidet gewesen, deren Reste jetzt in langen zerfasernden, vertikalen Fetzen herabhingen, so als hätte ein riesiges Tier sie mit seinen Krallen bearbeitet. Die Tatomi-Matten waren ausgefranst, auf den
Fensterbänken lagen tote Fliegen, und von den Lampenfassungen baumelten Spinnweben. »Na, was meinst du?«
Ich trat ein, stellte mich in die Mitte des Raums und drehte mich langsam um die eigene Achse. In der Wand direkt neben mir war ein Tokonoma- Alkoven eingelassen, doch an der Wand, wo das Jahreszeitenrollbild hängen sollte, stand nur ein kaputter Rattan-Schaukelstuhl.
»Du kannst es dir einrichten, wie du willst. Den Vermieter kümmert's einen feuchten Dreck. Die meiste Zeit vergisst er sogar, die Miete zu kassieren.«
Ich schloss die Augen und streckte meine Hände aus, um die samtene Luft, die staubigen Sonnenstrahlen auf meinem Rücken zu fühlen. Es war doppelt so groß wie mein Zimmer in London, und es erschien mir so einladend. In der Luft hing der vage Geruch von verfaulender Seide und Stroh.
»Nun?«
»Es ist ...«, stammelte ich und öffnete die Augen, um die Seide an den Wänden zu berühren, »... es ist wunderschön.«
Jason zog das Laken herunter und öffnete das Fenster, um Luft ins Zimmer zu lassen. »Bitte schön«, sagte er und deutete aus dem Fenster. »Godzillas Spielplatz.«
Auf dem Weg hierher, zwergengleich überragt von all den
Wolkenkratzern, war mir nicht bewusst gewesen, wie hoch Takadanobaba lag. Erst jetzt, von diesem Aussichtspunkt aus, bemerkte ich, wie steil das Gelände abfiel. Die Giebel der Gebäude waren auf gleicher Höhe mit meinem Fenster, und überall starrten Gesichter von hoch an den Fassaden angebrachten Videobildschirmen. Eine riesige Reklamewand, keine zwanzig Meter entfernt, nahm den größten Teil meines Blickfelds ein. Es war das gigantische Sepiafoto eines Filmstars, der mit einem schiefen Grinsen ein Glas hochhielt, so als würde er ganz Takadanobaba zuprosten. In das Glas waren die Worte »Suntory Reserve« eingeschliffen.
»Mickey Rourke«, erklärte Jason. »Offensichtlich ein totaler Frauenschwarm.«
»Mickey Rourke«, wiederholte ich. Ich hatte nie von ihm
gehört, doch mir gefiel sein Gesicht. Mir gefiel, wie er auf uns herablächelte. Ich hielt mich am Fensterrahmen fest und lehnte mich etwas weiter hinaus. »In welcher Richtung liegt Hongo?«
»Hongo? Keine Ahnung - ich glaube, es liegt ... in der Richtung, vielleicht.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen
Weitere Kostenlose Bücher