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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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die Angst ist noch immer die gleiche. Die Angst, die ich an jenem Morgen vor über fünfzig Jahren verspürt habe, ist etwas, das ich nur zu gut wiedererkenne. Es ist das gleiche Gefühl, das ich jetzt habe, wenn ich die Jalousien hochziehe und aus dem Fenster auf die Sonne schaue, die sengend auf Tokio herabbrennt.
    5
    Der Tag war so unerträglich heiß, dass die Bürgersteige von der Hitze aufweichten. Kondensierter Schweiß tropfte aus den Klimaanlagen, und Tokio schien drauf und dran, im nächsten Moment von der Kontinentalplatte zu rutschen und zischend im Meer zu versinken. Ich fand einen Zeitungskiosk und erstand eine Dose kalten grünen Tee und Kokosnussschokolade, die auf meiner Zunge zerging. Ich aß und trank, während ich die Straße entlangschlenderte, und schon bald fühlte ich mich besser. Ich stieg in eine U-Bahn und stand eingezwängt zwischen all den blitzsauberen Pendlern, so dass meine schmutzige Strickjacke ihre frisch gewaschenen Hemden berührte. Mir fiel auf, dass die Leute in Tokio niemals rochen. Das war komisch. Sie hatten keinen Geruch, und sie sprachen nicht viel: Die Züge waren bis auf den letzten Platz voll, doch es war alles ganz still, so als wäre man mit tausend Schaufensterpuppen im Wagon eingepfercht.
    Jasons Haus befand sich in einem Viertel namens Takadanobaba, der »hochgelegenen Pferdeweide«. Der Zug hielt an. Ich trat zögernd auf den Bahnsteig und starrte neugierig nach rechts und links auf die Automaten und Reklamen für Energydrinks. Jemand rempelte mich an, und es herrschte einen Moment Verwirrung, als der Rest der Menge eilig seitlich auswich, um nicht über uns zu stolpern. Denk immer daran - es gibt Regeln in der Gesellschaft, die zu beachten sind.
    Draußen vor der U-Bahnstation wimmelten die Straßen von
    Studenten der Waseda-Universität. Am oberen Ende der Straße, neben einer Citibank-Filiale, bog ich von der Hauptstraße ab. Schlagartig veränderte sich alles. Ich fand mich unvermittelt in einem Winkel des alten Tokio wieder. Weit weg vom elektronischen Gebrüll des Kommerzes gab es stille, kühle Alleen: ein Gewirr von verwinkelten Gäss-chen, eingezwängt in die Schluchten hinter den Wolkenkratzern, ein lebender, atmender Ort, wie das Dickicht eines Dschungels. Mir verschlug es den Atem, und ich schaute mich staunend um. Es sah genau so aus wie auf den Bildern in meinen Büchern!
    Windschiefe Holzhäuser lehnten müde und verrottend aneinander - erschöpfte Überlebende von Erdbeben, Bränden und Bombardierungen. In den Spalten zwischen den Häusern wucherten üppige Pflanzen, die aussahen, als wären sie Fleisch fressend.
    Jasons Haus war das größte, älteste und verfallenste, das ich bis jetzt in Tokio entdeckt hatte. Es stand an der Ecke zweier Straßen. Alle Erdgeschossfenster waren mit Brettern vernagelt und mit Vorhängeschlössern gesichert. Tropische
    Kletterpflanzen hatten den Bürgersteig aufgebrochen und rankten sich die Fassade empor. Angeschmiegt an die Seite des Hauses und von einem Wellplastikdach vor den Elementen geschützt, führte eine Stiege zur ersten Etage hinauf, die vor einer schmalen Holztür mit einer dreckigen alten Klingel endete.
    Ich erinnere mich noch genau daran, was Jason anhatte, als er die Tür öffnete. Er trug ein olivgrünes Hemd, Shorts und ein Paar abgewetzte alte Armeestiefel, nicht zugeschnürt und mit abgetretenen Hacken, so dass seine Füße darin wie in Pantoffeln steckten. Am Handgelenk hing ein Armband, und in der Hand hielt er eine silberne, von Kondenswasser triefende Bierdose mit dem auf der Seite angebrachten Schriftzug Asahi. Ich hatte für einen flüchtigen Moment Gelegenheit, ihn im Sonnenlicht zu betrachten. Er hatte glatte, faltenlose Haut, die verriet, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. Die Worte »Er ist wunderschön« drängten sich mir auf.
    »He«, sagte er, offenkundig überrascht, mich zu sehen.
    »Hallo, Spacko. Hast du deine Meinung geändert? Willst du das Zimmer doch?«
    Ich blickte am Haus empor. »Wer wohnt denn sonst noch
    hier?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Ich. Zwei der Mädchen vom
    Nachtklub. Ein paar Geister. Weiß nicht, wie viele, um ganz ehrlich zu sein.«
    »Geister?«
    »Das sagen die Leute jedenfalls.«
    Ich schwieg eine Weile, während ich die Ziegeldächer und die mit lädierten Drachen und Delfinen verzierten Giebel betrachtete. Das Haus wirkte größer und düsterer als seine Nachbarn. »In Ordnung«, sagte ich schließlich und hob meine Tasche vom Boden auf. »Die

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