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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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und blickte seitlich über die fernen Dächer und die Neonreklamen und die von der Sonne vergoldeten Fernsehantennen hinweg. Wir mussten Meilen entfernt sein. Ich würde niemals im Stande sein, Shi Chongmings Büro inmitten all dieser anderen Gebäude zu finden. Doch allein der Gedanke, dass es sich irgendwo dort draußen befand, war schon tröstlich.
    »Wie viel kostet es?«
    »Zweihundert Dollar pro Monat.«
    »Ich brauche es nur für eine Woche.«
    »Dann sind es fünfzig Dollar. Das ist praktisch geschenkt. «
    »Ich kann es mir nicht leisten.«
    »Du kannst dir fünfzig Dollar nicht leisten? Was denkst du denn, wie viel das Leben in Tokio kostet? Fünfzig Dollar ist echt total preiswert.«
    »Ich habe kein Geld.«
    Jason seufzte. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, schnippte die Kippe auf die Straße hinaus und wies auf die Stadtsilhouette. »Schau«, sagte er und lehnte sich aus dem Fenster. »Schau da hinüber, nach Südosten. Die hohen Gebäude sind Kabuki Cho. Und kannst du sehen, was dahinter ist?«
    In der Ferne zeichnete sich ein Ungetüm aus getöntem Glas, getragen von acht riesigen schwarzen Säulen, schwarz gegen den Himmel ab, thronte hoch über all den anderen Wolkenkratzern. Vier gigantische Wasserspeier aus schwarzem Marmor hockten auf den Ecken des Dachs und spien gasgespeiste Feuerschwalle zwanzig Meter hoch in den Himmel, so dass es aussah, als würde er brennen.
    »Das Gebäude gehört neben anderen den Mori-Brüdern. Aber siehst du das, in der obersten Etage?«
    Ich kniff die Augen zusammen. An die Spitze des Wolkenkratzers war mittels eines mechanischen Arms die riesige Gestalt einer Frau auf einer Schaukel angebracht. »Ich weiß, wer das ist«, sagte ich. »Ich erkenne sie wieder.«
    »Das ist Marilyn Monroe.«
    Marilyn Monroe. Sie musste gut zehn Meter messen, von
    ihren weißen Stöckelschuhen bis zu ihrem wasserstoffblonden Haar, und sie schwang in einem Fünfzehn-Meter-Bogen auf der Schaukel hin und her, während flüssiges Neon flackerte, so dass es aussah, als würde ihr weißes Sommerkleid bis über ihre Taille hochwehen.
    »Das ist der >Some Like It Hot<. Der Nachtklub, in dem wir arbeiten - ich und die Baba yagas. Ich nehme dich heute Abend mit dort hin. Da kriegst du deine Miete für die Woche in ein paar Stunden zusammen.«
    »Oh«, sagte ich und wich vom Fenster zurück. »O nein -
    davon hast du mir schon erzählt. Es ist ein Hostessenklub.«
    »Es ist klasse, echt total cool - Strawberry wird dich mögen, keine Frage.«
    »Nein«, sagte ich, schlagartig wieder verlegen und unsicher.
    »Nein, das wird sie nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ...« Ich verstummte. Ich konnte es jemandem wie Jason nicht erklären. »Nein. Sie wird mich ganz sicher nicht einstellen.«
    »Ich glaube, da irrst du dich. Und außerdem, so wie ich die Sache sehe, bleibt dir gar keine andere Wahl.«
    6
    Die Hostessen, die in den Zimmern im Nordflügel wohnten, die Baba-yagas, waren Zwillinge aus Wladiwostok. Svetlana und Irina. Jason stellte mich ihnen vor, als die Sonne unterging und die Hitze etwas nachgelassen hatte. Sie waren in Irinas Zimmer und machten sich für die Arbeit im Nachtklub fertig, fast identisch in ihren schwarzen Leggings und Lycra-BHs: hochgewachsen wie Laternenpfosten und wohlgenährt, mit kräftigen Armen und muskulösen Beinen. Sie sahen aus, als ob sie viel Zeit in der Sonne zubrachten, und beide hatten langes, dauergewelltes Haar. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Irinas Haar gelbblond und Svetlanas schwarz war. Ich hatte das Färbemittel, Neapolitanisch-Schwarz, in einer ausgeblichenen rosa Packung auf dem Küchenregal entdeckt. Sie setzten mich auf einen Hocker vor einen Schminktisch und bombardierten mich mit Fragen.
    »Du kennen Jason? Bevor du hergekommen?«
    »Nein. Ich habe ihn heute Morgen kennen gelernt.«
    »Heute Morgen?«
    »Im Park.«
    Die Russinnen sahen einander vielsagend an. »Er ein ganz Schneller, ja?« Svetlana schnalzte und zwinkerte mir zu. »Ein ganz Schneller.«
    Sie boten mir eine Zigarette an. Ich rauche gern. Das Mädchen im Nachbarbett in der Klinik hatte mir das Rauchen beigebracht, und ich fühlte mich dadurch sehr erwachsen. Doch ich besaß fast nie das Geld, um dabeizubleiben. Ich sah auf die Schachtel, die Irina mir zwischen ihren rot lackierten Fingernägeln hinhielt. »Ich habe keine, die ich dir als Gegenleistung anbieten kann.«
    Irina schloss halb ihre Lider und schürzte die Lippen zu einem Kussmund. »Kein Problem.«

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