Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
vergitterte Schächte in den Straßen der Stadt, an denen Regenwasser eingeleitet wurde. Verbindungen zur Oberfläche, durch die das Tageslicht einen Weg fand. Sie hielt die Lampe in den Durchgang. Die Mauern verliefen an beiden Seiten geradeaus, ohne dass sie ein Ende des Ganges erkannte. Die Leiter direkt unter reichte bis fast auf den Boden. Von hier oben wirkte dieser längst nicht so schlammig, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Weiter entfernt plätscherte es gerade aus einem der vielen Zuläufe in den Kanal. Wie im Buch beschrieben, sammelte sich der Großteil des Abwassers in einer tiefer gelegenen Rinne in der Mitte.
Bei all ihrer Furcht vor der Dunkelheit, es reizte sie, den Gang, und damit einen Teil der Stadt, zu erforschen und mehr darüber herauszufinden. Vielleicht sogar zu wagen, einen Zugang zur Straße hochzuklettern und sich an der Oberfläche umzusehen. Wie sehr sehnte sie sich danach, die Sonne oder den Wind auf der Haut zu spüren! Und mochte es nur für einen Augenblick sein.
Kate wischte mit dem kratzigen Jackenärmel über die Augen. Statt zu heulen, wollte sie glücklich sein.
Schluss mit dem Selbstmitleid! Je mehr sie von der Welt draußen erfuhr, desto besser konnte sie sich auf das spätere Leben in Freiheit vorbereiten.
Sie beugte sich weiter vor und betastete die Schmutzschicht, die an den Sprossen klebte. Als sie mit den Fingernägeln daran kratzte, lösten die Krusten sich ab und rieselten auf den Boden. Was von der Leiter übrig blieb, fühlte sich vertrauenserweckend massiv an. Mit ein wenig Vorsicht konnte sie sich trauen, die Streben mit ihrem Gewicht zu belasten.
Der Entschluss war gefasst. Morgen würde sie in die Kanalisation steigen.
Unten würde sie nur ein Stückchen weit gehen. Eine kurze Expedition ins Unbekannte, als Übung für die Zukunft. Ihre erste Welteroberung. Bei dem Gedanken lächelte sie.
Auf keinen Fall durfte sie sich hinterher durch verschmutzte Kleidung verraten. Flecke und verkrustete oder nasse Schuhe fielen Gustav sofort auf. Sich auszuziehen, kam nicht infrage. Dafür war es zu kalt. Ihr kam eine Idee. Auf einem ihrer Streifzüge durch das Haus hatte sie unter der obersten Treppe in einer Truhe Holzschuhe gefunden. Mochten diese ihr auch zu groß sein, für die paar Schritte reichten sie aus. Um Kleid und Jacke vor Spritzern zu schützen, würde sie sich eines der Bettlaken nehmen, die in den unbewohnten Zimmern die Möbel abdeckten. Brachte sie es danach zurück, fiel niemandem etwas auf. Zur Not musste sie es auswaschen, doch mit ein wenig Glück sollte es umgedreht aufgelegt gehen. Um besser sehen zu können, würde sie die Karbidlampe mitnehmen, wenn sie in das Loch hineinstieg.
Ihre Lippe brannte. Beim Nachdenken hatte sie wieder unbewusst darauf gebissen.
Sie verschloss die Tür. Die Lampe verstaute sie gemeinsam mit dem Schürhaken in der dunkelsten Ecke des Kellers. Geschah das Unerwartete und zufällig kam doch jemand von Madames Angestellten vorbei, durfte nichts Ungewöhnliches zu erkennen sein.
Zufrieden mit sich wischte sie die Hände an der Schürze ab und eilte die Treppe hoch. Zeit für das Abendessen.
10. Ausflug
Am nächsten Vormittag arbeitete sie in Windeseile Gustavs Aufträge ab. Nach dem Mittagessen suchte sie in der Truhe nach den Holzschuhen. Sie befanden sich unter einem Haufen Gerümpel und Kate hing sie sich an den daran befestigten Lederschnüren um den Hals. Jetzt benötigte sie noch das Laken.
Die unbewohnten Zimmer waren verschlossen und die Schlüssel verwahrte Gustav. Vor Jahren hatte Kate dem Hausmeister zugesehen, wie er eine dieser Türen mit einem Dietrich geöffnet hatte. Davon angeregt, hatte sie sich aus einem Laborspatel ein ähnliches Werkzeug gebogen. Nun fischte sie es hinter der losen Fußbodenleiste ihres Schlafzimmers hervor. Oft genug hatte sie an der eigenen Tür geübt und bekam jedes Schloss in kürzester Zeit auf.
Sie suchte einen Raum aus, der abgelegen im zweiten Stock lag, weit weg von Gustavs und Madames Bereichen. Auch das Personal hielt sich fern, was die Staubfäden bezeugten, die von der Decke herunterhingen wie zerrissene Gardinen.
Sie öffnete die Tür, huschte hinein und war genauso schnell wieder draußen, das Laken unter den Arm geklemmt.
Auf der unteren Treppe lauschte sie. Vom Hausmädchen war nichts zu hören. Vermutlich nutzte sie Gustavs Abwesenheit und erlaubte sich eine längere Pause. Kate schlich in den Keller. Dort entzündete sie die Karbidlampe und machte die
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