Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
Kopf.
»Lasst ihn gehen, Vater.«
24. Keine Heimat
Kate blickte auf die Blumenrabatte und Hecken unterhalb ihres Zimmerfensters. Sie waren so exakt angelegt wie die Pfade, die sich durch die Rasenflächen schlängelten, und ebenso gepflegt wie der Rest des elterlichen Anwesens.
Pünktlich zum Frühjahr wagte sich überall das erste Grün hervor und in wenigen Wochen würde alles in Blüte stehen. Der Gärtnergehilfe arbeitete emsig daran, die letzten Spuren des Winters zu beseitigen. Einmal sah er in ihre Richtung und senkte schnell wieder den Kopf. Sie ahnte, dass er um seinen Arbeitsplatz fürchtete. Ihr Verschulden. Sie hatte in der Orangerie ein paar Worte mit ihm gewechselt und damit gegen ungeschriebene Gesetze verstoßen, wonach ein junger Mann wie er nicht mit unverheirateten Damen ihres Standes reden durfte. Ihre Schwester Elise hatte das Vergehen natürlich gewissenhaft weitergetragen, und der arme Bursche war vom Oberdiener streng ermahnt worden, sich von den Töchtern des Barons fernzuhalten.
Kate stöhnte. Auch wenn diese Aussicht so viel besser war als die aus ihrem Zimmerchen in Madames Haus, manchmal sehnte sie sich beinahe in ihr altes Gefängnis zurück. Zwar hatte Gustav sie häufig schlecht behandelt und für die kleinsten Fehler hart bestraft, aber er hatte ihre Hilfe benötigt und ihr Arbeiten anvertraut, die ihm wichtig waren. Hier hingegen langweilte sie sich zu Tode, fand sich überflüssig und schrecklich tölpelhaft.
Nicht einmal richtig essen kann ich!
Wie oft war ihr schon eines der schweren Messer entglitten und auf das kostbare Geschirr aufgeschlagen? Zwei Teller hatte sie bereits durch ihre Ungeschicklichkeit zerbrochen. Fast täglich kämpfte sie mit der Unzahl an Besteckteilen und bis heute blieb es ihr ein Rätsel, welche Gabel zu welchem Gericht gehörte.
Beim Tanzunterricht erging es ihr nicht besser. Die Tanzlehrerin verdrehte die Augen, wann immer sie sich unbeobachtet glaubte. Wie schaffte es Elise, so sicher über das Parkett zu schweben? Ihre Schwester besaß einfach mehr Taktgefühl und Kate fürchtete, dies galt nicht nur für den musikalischen Bereich.
Elise wusste stets, was ihr Gegenüber hören wollte. Während Kate unsicher war, wie sie mit den vielen Besucherinnen ihrer Mutter umgehen sollte, plauderte Elise über das Wetter oder die neueste Mode mit ihnen, als gäbe es nichts Angenehmeres und Interessanteres auf der Welt.
Im Gegenzug interessierte sich keine der Damen für Dinge, die Kate beherrschte und die sie begeisterten. Mit ihrer Familie oder deren Bekannten über Erfindungen und andere Völker und deren fremde Gebräuche zu sprechen, brachte nichts als irritierte Blicke und die unausgesprochene Aufforderung, sich um weniger Langweiliges und mehr Weibliches zu kümmern.
Beim Gedanken an den Unterricht bei ihrem Hauslehrer, auf den sie große Hoffnungen gesetzt hatte, musste sie schnauben. Er lehrte sie weder Mathematik noch Physik oder Chemie. Auf ihre Fragen nach den unterschiedlichen Parteien und Vorteilen der verschiedenen Regierungsformen erntete sie nur einen verstörten Blick und den Hinweis, dies sei für eine Lady überflüssiges Wissen.
An das allmorgendliche Gebet, das ihr Vater dem versammelten Haushalt vortrug, hatte sie sich gewöhnt. Sie nahm selbstverständlich auch an den Kirchbesuchen der Familie teil. Ihr Herz berührte nichts davon. Zu unverständlich blieb ihr das alles, zu fremd und es langweilte sie.
Der von ihrem Vater verordnete Religionsunterricht hatte sich als Auswendiglernen von uralten Geschichten herausgestellt, die Kate für überwiegend unrealistisch hielt. Glaubten Menschen tatsächlich an eine Weltenschöpfung in nur sieben Tagen? Wie passte die Evolutionstheorie dazu? Diese von ihr gestellte Frage provozierte beinahe einen Ohnmachtsanfall des Pfarrers. Als der vertrocknete alte Mann sich halbwegs beruhigt hatte, musterte er sie, als erwartete er jeden Augenblick, dass ihr Teufelshörner wuchsen.
Das nachfolgende Gespräch, zu dem ihr Vater sie gebeten hatte, machte die Angelegenheit nicht leichter für sie.
Aus dem Traum, mehr von der weiten Welt zu sehen, war ebenfalls nichts geworden. Waterlons vornehmste Geschäfte kannte sie allerdings zur Genüge! Der Gedanke, noch einmal einen Nachmittag lang mit ihrer Schwester Sonnenschirme ansehen und vergleichen zu sollen, ließ sie fast losschreien.
Sie war gemeinsam mit der Familie durch Parkanlagen gewandelt und hatte Konzerte und Theatervorstellungen besucht.
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