Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
Tänzchen mit euch wagen wollen, dafür benötigt ihr die entsprechende Garderobe.«
Elises Entzückensschreie gellten Kate in den Ohren. Ihre Schwester sprang auf und umarmte ihren Vater, hüpfte dabei auf und nieder wie ein Kind. Elise abzulenken, ging herzlich einfach. Selbst die Qualen ihrer Entführung hatte sie erstaunlich schnell hinter sich gelassen, als belaste sie ihr Gedächtnis nie lange mit schlechten Erinnerungen.
Kate beneidete sie darum. Bei ihr reichte der Geruch nach Moder, und sie wähnte sich in dem dunklen Gefängnis, in dem Madame sie hatte sterben lassen wollen. Von den Albträumen, die sie fast jede Nacht verfolgten, nicht zu reden.
Wie konnten Zwillinge sich derart ähnlich sehen und dennoch grundverschieden sein? So sehr Kate sich bemühte, es gelang ihr nicht, eine freundschaftliche Beziehung zu Elise aufzubauen.
Der Blick ihres Vaters lag auf ihr. Hinter seinem Lächeln verbarg er, wie stark sie ihn irritierte. So weit kannte sie ihn nun schon. Schnell heuchelte sie ebenfalls Begeisterung.
Er löste sich aus Elises Umarmung, fuhr ihr sanft über die sorgsam gescheitelten Haare und sagte: »Nun suche ich eure Mutter auf. Die Vorfreude auf die Feier wird sie sicher ablenken.«
An der Tür wandte er sich Kate zu. »Komme bitte heute Nachmittag in mein Arbeitszimmer. Ich lasse dich rufen, sobald ich aus dem Club zurück bin.«
Damit verschwand er. Kate rieb sich den Nacken. Ihr stand vermutlich ein unangenehmes Gespräch bevor. Seufzend entschloss sie sich, gleich nach dem Frühstück das Korsett anzulegen.
Elise plapperte bereits ohne Pause über den Ball und hatte den Zorn auf sie längst vergessen. Kate achtete kaum auf das Gesagte, nickte ab und zu und löffelte unglücklich den erkalteten Porridge.
Beim Mittagessen blieb der Baron wie fast immer abwesend. Ihre Mutter, die ausnahmsweise keinen Besuch von Bekannten hatte, verhielt sich, als wäre heute Morgen nicht das Geringste vorgefallen. Sie plante bereits die Gästeliste für den Ball und wirkte überglücklich. Kate hörte zu, wie ihre Schwester und sie sich über die korrekte Sitzordnung unterhielten, trank stumm ihren Tee und aß ein weiteres Stück des kalten Bratens. Wie konnte ein Mensch sich so einsam in einem Raum mit anderen Leuten fühlen? Wieso schaffte sie es nicht, sich ein wenig mehr wie die beiden zu verhalten und glücklich dabei zu sein? Bei dem Gedanken an den Ball bekam sie jetzt schon feuchte Hände. Wie sollte sie eine derartig komplizierte Veranstaltung überstehen, ohne peinliche Fehler zu begehen. Ihr schwirrte der Kopf von all den Regeln, nach denen die Mitglieder der besseren Gesellschaft miteinander umgingen. Wildfremde Menschen würden sie anstarren, als wäre sie eine exotische Besonderheit. Eventuellen Tänzern würde sie auf die Füße treten, die Schritte durcheinanderbringen und sich bis auf die Knochen blamieren. Kurz, wie eine tollpatschige Karikatur ihrer Schwester wirken.
Ihr Lehrer mühte sich gerade ab, ihr die Namen, Anreden und Rangfolge der wichtigsten Adelsfamilien einzuhämmern, da informierte ein Diener sie, der Baron wolle sie im Arbeitszimmer sehen. Kate wappnete sich für eine schwierige Begegnung.
Vor ihm zu stehen, während von den Gemälden an den Wänden längst verstorbene Verwandte ernst und erhaben auf sie herabblickten, fühlte sich nach wie vor fremd an. Zur Ablenkung ließ sie den Blick durch den Raum wandern. Die Hölzer der wertvollen Möbel glänzten im Schein der Lampen. Sie wurden täglich von den Hausmädchen poliert, weshalb sich weder Fingerabdrücke noch Staubkörnchen fanden. Kate interessierte sich mehr für die technischen Geräte. Die Schreibmaschine dort sah exakt aus wie diejenige aus dem Artikel, den sie damals in Gustavs Bibliothek gelesen hatte. Zu gern hätte sie auf ihr geschrieben und ausprobiert, ob sie wirklich fast von selbst anschlug. Bisher hatte dafür die Gelegenheit gefehlt. Ihr Vater hielt das Arbeitszimmer stets abgeschlossen, wenn er sich außer Haus befand. War er einmal vor Ort, bekam er häufig Besuch von wichtigen Leuten, erhielt Botschaften zugestellt, auf die er antworten musste, oder telefonierte lange. Kurz, er war ein sehr beschäftigter Mann und hatte kaum Zeit für sie. Außerhalb der Mahlzeiten führte er höchst selten ein Gespräch mit ihr und blickte dabei ständig auf die Taschenuhr.
Nun saß er am Schreibtisch und blätterte in der Zeitung. Er winkte sie zu sich und bot ihr an, Platz zu nehmen.
»Du hast viel
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