Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
Zuerst fand sie das Unbekannte überwältigend, doch nach nur kurzer Gewöhnungszeit fesselte sie nichts davon wirklich. Ihrem Eindruck nach ging es der Mutter und Elise nur darum, gesehen zu werden und mit ihren Bekannten inhaltslose Gespräche zu führen. Weil sie nie wusste, mit welchem Titel sie ihr Gegenüber anzusprechen hatte, fühlte sie sich schon deswegen unsicher. Jeder ihrer Fehler wurde registriert und bewertet, da war sie sich sicher.
Ihren Wunsch, die Stadt zu Fuß erkunden zu dürfen, hatte ihr Vater abgeschlagen, denn das war für ein weibliches Wesen ihres Standes undenkbar.
Kate hoffte auf die Sommermonate. Dann flüchtete die Familie vor der unerträglichen Hitze und der verpesteten Luft auf ihre Landgüter außerhalb von Waterlon. Dort würde sie sich hoffentlich endlich freier bewegen können, nur waren es bis dahin noch Wochen.
Zu all diesen kleinen Ärgernissen kam die Sache mit dem Korsett.
Kate hatte sich damit abgefunden, sich mehrmals am Tag umzukleiden und die überflüssigsten Dinge zu tragen, wie Unmengen an Unterröcken und weiße Handschuhe, die Schmutz magisch anzogen. Wieso trugen Ladys Kleider, die mit unendlich vielen winzigen Knöpfen geschlossen wurden und warum befanden sich diese ausgerechnet am Rücken? Ohne Marias Hilfe wäre sie hoffnungslos verloren.
Das Korsett aber quälte sie. Nun erlebte sie täglich am eigenen Leib, was sie vor Jahren schon in einem Artikel gelesen hatte: wie sehr dieses Folterinstrument den weiblichen Körper schädigte. Die Taille wurde zusammengeschnürt, infolgedessen konnte die Lunge sich nicht genug ausdehnen. Kein Wunder, dass Elise und ihre Mutter bei der kleinsten Aufregung Atemprobleme bekamen oder sogar ohnmächtig zusammenbrachen.
Heute hatte sie entschieden, es nicht länger zu tragen. Maria schüttelte zwar den Kopf und fragte zweimal, ob sie stattdessen die Schnürung weniger stark anziehen solle, doch Kate hatte ihren Willen durchgesetzt. Sie gönnte sich einen letzten Blick aus dem Fenster und sammelte Mut für die Begegnung mit ihrer Familie. Jetzt würde sie zum Frühstück gehen und hoffentlich in Ruhe gelassen werden.
Die Hoffnung, ihre kleine Rebellion bliebe unbemerkt, erfüllte sich leider nicht.
Kaum ließ sie sich im Frühstückszimmer nieder, forderte ihre Mutter sie auf, in ihr Zimmer zurückzugehen und sich anständig zu bekleiden.
Wie schon so oft versuchte Kate, sie zu überzeugen, wie ungesund und überflüssig ein Korsett sei. Wie immer ohne Erfolg, denn mit Vernunft war ihrer Mutter nicht beizukommen. Manchmal wunderte Kate sich nicht, dass ihr Vater sich nach dem Frühstück und Morgengebet fast nur in seinem Club aufhielt. Obwohl er seiner Frau ganz offensichtlich zugetan war, hatte Kate die beiden bisher nicht ein einziges Mal über Geldgeschäfte, neue Gesetze oder Politik reden hören.
»Mit dieser verqueren Einstellung wird dich kein Mann zur Frau nehmen, junge Lady. Schlimmer, du verdirbst deiner Schwester jede Aussicht auf eine ihr angemessene Partie«, schalt ihre Mutter sie jetzt und zupfte hektisch am linken Handschuh, wodurch sie verriet, wie sehr Kates Verhalten sie verstörte.
Kate öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, wie unlogisch dieses Argument sei, doch ihre Mutter brach in Tränen aus und verließ schluchzend den Raum.
Der Porridge schmeckte mit einem Mal wie Kleister.
Elise sah sie an, als könne sie nicht fassen, was gerade geschehen war. Wie zu einem ungezogenen Kind sagte sie: »Mutter meint es nur gut mit dir, und du reizt sie bis aufs Blut. Die Ärmste wird jetzt bestimmt Migräne bekommen.«
Damit wandte sie sich ihrem Vater zu und schenkte ihm ihren Kleinmädchenblick, mit dem sie ihn regelmäßig dazu brachte, ihr recht zu geben. Kates Hände bebten so stark, dass sie den Löffel losließ. Am liebsten hätte sie ihre Schwester angefaucht, sie solle sich aus ihren Angelegenheiten heraushalten.
Sie erwartete, von ihrem Vater ausgescholten zu werden, doch der tätschelte nur Elises Hand.
»Ich denke, dem Ganzen liegt ein Missverständnis zugrunde. Kate wollte eurer Mutter sicher nicht unangemessen antworten. Die beiden werden eine Lösung finden.«
Schwungvoll warf er seine Serviette auf den Tisch und schlug vor: »Was haltet ihr von der Idee, zu eurem Geburtstag einen Ball zu veranstalten? Die Rettung unserer Töchter gehört gebührend gefeiert.«
Mit einem Zwinkern fuhr er fort: »Der ein oder andere junge Herr wird bestimmt unter meinem gestrengen Auge ein
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