Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
dran, für den Baron arbeiten zu dürfen. Es gibt Schlimmere als den Oberdiener, könnt Ihr mir glauben. Der schlägt nur zu, wenn er einen Grund hat. Nicht, wenn er einen sucht.«
Mit flinken Fingern öffnete Maria die vielen kleinen Verschlusshäkchen an Kates Kleid und half ihr, aus dem Kleidungsstück zu schlüpfen.
»Also halte ich besser meinen Mund?«, fasste Kate zusammen.
»Genau. Ihr solltet Euren Vater nie mit solchen Sachen belästigen. Damit tut ihr niemandem einen Gefallen. Derartiges machen wir Angestellten unter uns aus.«
»Verstehe.« Kate nickte. »Danke für die Auskunft.«
Maria lachte und löste die Verschnürung des Korsetts. Endlich. Kate holte tief Luft und rieb sich die juckenden Stellen, an denen der Federstahl in die Haut gedrückt hatte.
»Will der Junge essen, muss er dafür arbeiten«, erklärte ihre Zofe trocken.
Kate hatte längst begriffen, dass ihr neues Leben weit privilegierter als das fast aller anderen Bewohner Waterlons verlief. Wenn ihre Mutter sie und Elise mit auf eine Einkaufsfahrt in die Stadt nahm, übersah Kate nicht die verzweifelten Bemühungen der erschöpft aussehenden Verkäuferinnen, nur nichts falsch zu machen. Auch nicht die zerlumpte Frau mit dem hohläugigen Kind auf dem Arm, die schnell den Gehweg für die Herrschaften freimachte, oder die dreckverkrusteten bloßen Füße des greisenhaften Straßenfegers. Sie erinnerte sich ebenfalls noch gut an die schäbigen Verkaufsstände, die sie auf ihrem Ausflug mit den Einbrechern gesehen hatte, die heruntergekommenen Leute in den Straßen und in der Kneipe. An den Gestank, der sie umgeben hatte.
Etliche Einwohner Waterlons vegetierten unter Bedingungen, die ihr Leben unter Gustavs strenger Hand im Nachhinein fast paradiesisch erscheinen ließen.
Letzteres bestätigte wenig später der ungeplante Einblick in Marias Schlafraum.
An diesem Morgen erschien statt Maria die Hausdame Mrs. Harris, um ihr bei der Morgentoilette zu helfen. Obschon Kate sich keiner Schuld bewusst war, fürchtete sie, einen Fehler gemacht zu haben, der auf Maria zurückgefallen war. Sie wollte nicht der Grund sein, warum ihre Zofe entlassen wurde. Erleichtert hörte sie auf ihre Frage, was denn mit Maria sei, dass diese mit einer fiebrigen Erkältung das Bett hüten müsse. Spontan beschloss sie, ihr ein von Elise geschenktes Buch vorbeizubringen. Ihre Schwester neigte zu einfacher Literatur. Maria konnte sich damit ablenken, ohne den Kopf anzustrengen.
Die Quartiere der Männer lagen im Kellergeschoss, die der weiblichen Angestellten unter dem Dach. Um dort hinaufzukommen, benutzte Kate die Dienstbotentreppe im hinteren Teil des Hauses. Elektrisches Licht war nicht bis hierher vorgedrungen, weshalb nach wie vor Gaslampen für Beleuchtung sorgten, wenn auch nur für die allernötigste. Oben wartete ein ebenso schlecht ausgeleuchteter Flur auf sie. Die mangelnde Helligkeit vertuschte nicht die abgewetzten Böden und zerkratzten Wände, die dringend einen neuen Anstrich benötigten. Kate musste aufpassen, nicht über die ausgefransten Kokosläufer zu stolpern. Welcher Kontrast zu den Fluren im unteren Hausbereich! Dieser Bereich des Hauses erinnerte sie an Madames düsteres Gemäuer.
Sie blieb stehen. Wie fand sie jetzt Marias Raum? Von jeder Flurseite gingen mehrere Türen ab. Die erste stand auf, so wagte sie einen Blick hinein. Ein Badezimmer, ähnlich wie das im Erdgeschoss von Madames Haus, mit einem stinkenden Plumpsklo und einem Waschbecken, das nur einen Kaltwasserhahn besaß. Den fadenscheinigen Handtüchern nach, die sorgfältig auf die einzelnen Sprossen eines Trockengestells drapiert waren, benutzten die Bewohnerinnen des Flurs das fensterlose Loch auch, um sich hier zu waschen.
Kate kehrte in den Flur zurück und hörte aus dem hinteren Bereich Stimmen. Gerade wollte sie anklopfen, als die Tür aufschlug. Ein bleiches Gesicht erschien und zuckte bei ihrem Anblick zusammen, als wäre sie der Teufel höchstpersönlich. Der grauen Schürze nach hielt Kate das Mädchen für eines der Küchenmägde. Weit jünger als sie und mit rotgescheuerten Händen.
Das Kind wirkte völlig verwirrt und gab außer einem Grunzen keinen Ton von sich.
Kate zeigte das Buch vor. »Ich suche Maria.«
Die Kleine starrte sie an, als verstünde sie kein Wort. Schließlich deutete sie hinter sich und machte ihr Platz.
Kate dankte ihr und betrat das Zimmer. Maria stand vor dem Bett, im grauen Nachthemd und barfuß. Sie war dabei, ein Plaid um die
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