Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
und die dunklen Schlupfwinkel des verwickelten Labyrinths der Natur. Weihe mich ein in alle jene Mysterien, welche profane Augen nie sehen. Lehre [41] mich, denn dir ist es ein Leichtes, die Menschen besser kennen als sie selbst sich kennen. Zerstreue den Nebel, der die Augen des Verstandes der Sterblichen verdunkelt, so daß er Menschen vergöttern läßt wegen ihrer Kunst, und andre verabscheuen wegen ihrer List, damit sie andre täuschen; wann beide dem wahren Wesen nach weiter nichts sind als Thoren zum Belachen, die nur sich selber betrügen. Nimm hinweg die dünne Verkleidung, wohinter Selbstdünkel für Weisheit, Geiz für Mäßigkeit, Reichtum und Prahlsucht für Ehrliebe gehalten sein möchten. Komm! Du begeistertest deinen Aristophan, deinen Lucian, deinen Cervantes, deinen Rabelais, deinen Moliere, deinen Shakespeare, deinen Swift, deinen Marivaux, (und deiner nicht minder Geliebten manche, unter unsrer sächsischen Sippschaft, deren Namen schwer lauten, dem, der nicht ihre tonvolle Sprache kennt). Komm und fülle auch mein Blatt mit der beizenden Würze noch unverdunsteten Witzes, bis die Kinder der Menschen die Gutmütigkeit lernen, über andrer Thorheiten bloß zu lachen und die Demut, über ihre eignen sich zu härmen.
Und du, fast unzertrennliche Begleiterin des wahren Genies, Menschenliebe! Bring' herbei alle deine feinen Gefühle, und hast du sie alle bereits verteilt unter deinen Allen und deinen Lyttleton, o, so müssest du sie auf eine kleine Weile aus ihrem Busen stehlen. Wer kann rührende Szenen malen ohne sie! Von ihnen allein entspringen die edle, uneigennützige Freundschaft, die seelenschmelzende Liebe, die großmutsvolle Gesinnung, die heiße Dankbegierde, die liebreiche Meinung von andern, und alles thätige Wirken eines wohlwollenden Herzens, das das wässernde Auge mit Thränen füllt, die glühenden Wangen mit Blut, und die Seele überströmt mit Gram, mit Freude und Seligkeitsgefühl im Wohlthun.
Und du, Gelehrsamkeit! (denn ohne deinen Beistand kann selbst das Genie nichts Reines, nichts Korrektes hervorbringen), leite du meinen Kiel! Dir brachte ich meine Verehrung dar zur Zeit meiner frühesten Jugend, in jenen von dir begünstigten Gefilden, wo die helle, sanftwallende Themse an Etons Ufern spielt. Dir opferte ich, mit ächter spartanischer Andacht, an deinem birkenen Altare mein Blut. So komm denn auch nun und öffne mir die vollen Speicher, wo deine großen, unerschöpflichen Reichtümer in bejahrten Antiquitäten aufgehäuft liegen. Schließe mir auf deine mäonischen und mantuanischen Schränke, und worin sonst deine philosophischen, poetischen und historischen Schätze aufbewahrt liegen, sei das Mark in griechischen oder römischen Charakteren, womit es dir beliebt hat, die schweren Kisten zu bezeichnen! Mir gieb nur auf eine Zeitlang die Schlüssel zu deinen Schätzen, die du deinem Warburton wohl ehemals anvertraut hast.
[42] Zuletzt noch komm auch du, Erfahrung! Bewährte Vertraute des Weisen, des Guten, des Gelehrten und des feinen Weltmanns. Doch nicht nur mit diesen hieltst du Umgang, sondern auch mit Menschen von jedem Range und jedem Stande, vom Minister in seinem Konferenzkabinet herab bis zum Werkmeister des gram- und planvollen Spinnhauses, vom Assembleesaal der Gräfin bis herunter zum Zahltisch der Wirtin des Weinschanks, oder nur auch schäumenden Bieres. Bloß allein durch dich lernt man die Sitten der Menschenkinder kennen, ewig fremde dem menschenscheuen Pedanten, so weitumfassend er auch sei, der Kreis seines toten Wissens oder des unübersehbaren Feldes seiner Gelehrsamkeit.
Ihr alle, und wenn es möglich noch mehrere, kommt! Denn wichtig ist mein unternommenes Werk und wird mir, helft ihr nicht alle, so fühl' ich's, für meine Kräfte zu schwer. Lächelt ihr aber alle meiner Arbeit, so hoff' ich noch, bring' ich sie glücklich zum Ziele.
Zweites Kapitel.
Was Herrn Jones bei seiner Ankunft in London begegnete.
Der gelehrte Doktor Misaubin pflegte zu sagen, die eigentliche Briefadresse an ihn wäre: An Herrn Doktor Misaubin in der Welt, womit er zu verstehen geben wollte, daß in derselben sehr wenig Menschen wären, denen sein berühmter Name nicht bekannt sei. Und bei einer genauen Untersuchung finden wir vielleicht, daß dieser Umstand unter den mancherlei Vorzügen der Großen dieser Welt keine der geringfügigsten sei.
Die große Glückseligkeit, von der Nachwelt gekannt zu werden mit der Hoffnung, auf welche wir uns in dem vorhergehenden
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