Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
hat.«
»Warum haben Sie bis jetzt noch nichts davon gesagt?«
»Ich hatte das tatsächlich vollkommen vergessen. Ich habe sie weggesteckt, damit sie nicht verlorengingen, und es ist mir nie eingefallen, nach ihnen zu sehen, seit dem Tage, an dem er sie mir gegeben hat.«
»Er hat sich entweder umgebracht oder seine Identität gewechselt, nicht wahr?«
»Ja.« Tom sagte es traurig und fest.
»Sie sollten das besser Mr. Greenleaf sagen.«
»Ja, das werde ich. Mr. Greenleaf und der Polizei.«
»Das erledigt die Sache praktisch«, sagte Marge.
Tom wrang jetzt den Schuh zwischen seinen Händen wie ein Paar Handschuhe, aber er hielt ihn immer noch bereit, denn Marge starrte ihn seltsam an. Sie dachte immer noch nach. Führte sie ihn an der Nase herum? Wußte sie jetzt Bescheid?
Marge sagte ernst: »Ich kann mir Dickie einfach nicht vorstellen ohne seine Ringe«, und da wußte Tom, daß sie nicht auf die Antwort gekommen war, daß ihre Gedanken meilenweit davon entfernt einen anderen Weg liefen.
Jetzt ließ seine Spannung nach, schlapp sank er auf das Sofa, er tat, als sei er mit dem Anziehen seiner Schuhe vollauf beschäftigt. »Nein«, stimmte er mechanisch zu.
»Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich jetzt Mr. Greenleaf anrufen. Aber er ist wahrscheinlich schon zu Bett gegangen, und wenn ich ihm das jetzt sagen würde, dann täte er die ganze Nacht kein Auge zu, das weiß ich.«
Tom mühte sich, seinen Fuß in den zweiten Schuh zu zwängen. Sogar seine Finger waren schlapp und ohne Kraft. Er zerbrach sich den Kopf nach einer gescheiten Bemerkung, die er jetzt machen könnte. »Es tut mir leid, daß ich das nicht früher gesagt habe«, brachte er mit tiefer Stimme hervor. »Es war einfach wieder so eine . . .«
»Ja, dadurch wird es irgendwie sinnlos, daß Mr. Greenleaf jetzt noch einen Privatdetektiv herüberholt, nicht wahr?« Ihre Stimme zitterte.
Tom schaute sie an. Sie war den Tränen nahe. In diesem Augenblick, erkannte Tom, gestand sie sich zum allerersten Male ein, daß Dickie tot sein könnte, daß er wahrscheinlich tot war. Langsam ging Tom auf sie zu. »Es tut mir leid, Marge. Es tut mir ganz besonders leid, daß ich Ihnen nicht eher etwas von den Ringen gesagt habe.« Er legte seinen Arm um sie. Das war kaum noch nötig, denn sie lehnte sich gegen ihn. Er atmete den Duft ihres Parfüms. Das Stradivari sicherlich. »Das ist einer der Gründe, warum ich mit dieser Gewißheit spürte, daß er sich umgebracht hat - wenigstens, daß er es getan haben könnte.«
»Ja«, sagte sie in jämmerlichem, klagendem Ton.
Sie weinte nicht richtig, sie lehnte sich nur an ihn, bewegungslos, mit gesenktem Kopf. Wie jemand, der gerade eine Todesnachricht erhalten hat, dachte Tom. Und das hatte sie ja auch.
»Wie wär´s mit einem Cognac?« fragte er sanft.
»Nein.«
»Kommen Sie, setzen Sie sich auf das Sofa.« Er führte sie hinüber.
Sie setzte sich, und er ging quer durchs Zimmer, um den Cognac zu holen. Er goß Cognac in zwei Schwenker. Als er sich umwandte, war sie nicht mehr da. Er konnte gerade noch einen Zipfel ihres Morgenrockes und ihre bloßen Füße oben auf der Treppe verschwinden sehen.
Sie zog es vor, allein zu sein, dachte er. Er setzte sich in Bewegung, um ihr den Cognac nachzubringen, dann änderte er plötzlich seinen Entschluß. Wahrscheinlich half ihr hier auch Cognac nicht mehr. Er wußte, wie ihr zumute war. Gemessen trug er die Cognacs wieder zurück zur Hausbar. Eigentlich hatte er nur einen zurückgießen wollen, aber jetzt goß er beide zurück und stellte die Flasche wieder zu den anderen Flaschen.
Wieder sank er auf das Sofa, streckte ein Bein darauf aus und ließ den Fuß baumeln, er war jetzt zu erschöpft, um auch nur seine Schuhe auszuziehen. Genauso müde wie nach dem Mord an Freddie Miles, dachte er plötzlich, oder wie nach dem Mord an Dickie in San Remo. Er war so nahe daran gewesen! Wie nüchtern er überlegt hatte, daß er sie mit dem Schuhabsatz bewußtlos schlagen müßte, jedoch nicht so heftig, daß irgendwo die Haut verletzt würde, daß er sie durch die Diele und zur Vordertür hinausschleppen müßte, ohne Licht, damit niemand sie sehen könnte - wie schnell er sich seine Geschichte gezimmert hatte, daß sie anscheinend ausgeglitten sei, daß er geglaubt hätte, sie könnte ohne weiteres zurückschwimmen zur Treppe, daß er ihr deshalb nicht nachgesprungen sei oder um Hilfe gerufen hätte, bis . . . Wenn er es sich recht überlegte, hatte er im Geiste
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