Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
bäumten sich die Wellen auf und brachen sich auf dem Sand. Jetzt sah Tom, daß die Männer turnten.
»Das müssen Berufsakrobaten sein«, sagte Tom. »Sie tragen alle die gleichen gelben Badehosen.«
Interessiert schaute Tom zu, wie sich eine Menschenpyramide zu erheben begann, Füße gruben sich in schwellende Beinmuskeln, Hände umklammerten Unterarme. Er konnte ihr »Allez!« und ihr »Eins - Zwei!« hören.
»Sieh doch!« rief Tom. »Jetzt kommt die Spitze!« Er blieb stehen, um dem Kleinsten, einem Jungen von etwa siebzehn Jahren dabei zuzuschauen, wie er dem mittleren der drei Spitzenmänner auf die Schultern kletterte. Dort stand er dann ganz lässig, die Arme ausgebreitet, als nähme er den brausenden Applaus entgegen. »Bravo!« schrie Tom.
Der Junge lächelte Tom zu, ehe er hinuntersprang, geschmeidig wie eine Katze.
Tom schaute sich nach Dickie um. Dickies Blick ruhte auf ein paar Männern, die in ihrer Nähe am Strand saßen.
»Zehntausend sah ich mit einem Blick, beim munteren Tanze mit Kopfgenick«, höhnte Dickie.
Tom fuhr zusammen, dann fühlte er den scharfen Stich der Scham, der gleichen Scham, die er in Mongibello empfunden hatte, als Dickie sagte: Marge meint, du wärest es. Gut, dachte Tom, laß die Akrobaten warm sein. Vielleicht war Cannes voll von Warmen. Na und? Toms Hände ballten sich in den Taschen zu harten Fäusten. Tante Dotties Hohn klang ihm in den Ohren: Schwächling! Er ist ein Schwächling von Grund auf. Genau wie sein Vater! Dickie stand da, mit verschränkten Armen, und blickte aufs Meer hinaus. Tom hütete sich, den Akrobaten auch nur noch einen Blick zu schenken, obwohl es ganz gewiß viel amüsanter war, ihnen zuzuschauen als dem Meer. »Gehst du ´rein?« fragte Tom und knöpfte kühn sein Hemd auf, wenn auch das Wasser plötzlich verflucht kalt aussah.
»Wohl kaum«, sagte Dickie. »Warum bleibst du nicht noch ein bißchen hier und guckst den Akrobaten zu? Ich gehe.« Er drehte sich um und schritt davon, noch ehe Tom antworten konnte.
Hastig knöpfte Tom sein Hemd wieder zu und sah Dickie nach, der in weitem Bogen davonging, weg von den Akrobaten, obwohl die nächste Treppe zur Straße hinauf doppelt so weit entfernt war wie die Treppe bei den Akrobaten. Zum Teufel mit ihm, dachte Tom. Mußte er sich die ganze Zeit so verdammt unnahbar und erhaben aufführen? Man konnte fast glauben, er hätte noch nie einen Homosexuellen gesehen! Ganz klar, was mit Dickie los war, jawohl! Warum verriet er sich nicht, nur dieses eine Mal? Was hatte er denn so Bedeutendes zu verlieren? Ein halbes Dutzend Schmähungen entsprangen seinem Hirn, während er Dickie nachrannte. Dann blickte Dickie ihn über die Schulter kalt, voller Ekel an, und die erste Schmähung erstarb ihm auf den Lippen.
Am Nachmittag fuhren sie ab nach San Remo, kurz vor drei, damit sie das Hotel nicht noch für einen weiteren Tag bezahlen mußten. Dickie hatte den Vorschlag gemacht, vor drei abzureisen, obwohl Tom es war, der die Hotelrechnung über 3430 Francs bezahlte, zehn Dollar und acht Cent in amerikanischem Geld, für eine Nacht. Tom kaufte auch die Fahrkarten nach San Remo, obwohl Dickie gespickt war mit Francs. Dickie hatte seinen Monatswechsel aus Italien mitgebracht und hatte sich das Geld in Francs auszahlen lassen. Er dachte wohl, er käme besser dabei weg, wenn er später die Francs wieder in Lire zurücktauschte, weil der Franc ganz plötzlich angezogen hatte.
Im Zug sagte Dickie absolut nichts. Unter dem Vorwand, er sei müde, verschränkte er die Arme und schloß die Augen. Tom saß ihm gegenüber, starrte auf sein knochiges, arrogantes, hübsches Gesicht, auf seine Hände mit dem grünen Ring und dem goldenen Siegelring. Es schoß Tom durch den Kopf, daß er den grünen Ring stehlen könnte, bevor er ginge. Das wäre einfach: Dickie zog ihn ab, wenn er schwamm. Manchmal zog er ihn sogar ab, wenn er zu Hause duschte. Er würde es am allerletzten Tage tun, dachte Tom. Er starrte auf Dickies geschlossene Augenlider. Ein wirres Gefühl aus Haß und Zuneigung, Ungeduld und Verzweiflung schwoll in ihm, machte ihm das Atmen schwer. Er wollte Dickie töten. Nicht zum erstenmal dachte er daran. Schon früher, einmal, zweimal, dreimal hatte dieser Gedanke ihn durchzuckt, wenn er verärgert war oder enttäuscht, ein Gedanke, der sich gleich darauf wieder verflüchtigte und ihn beschämt zurückließ. Jetzt dachte er eine volle Minute, zwei Minuten darüber nach, denn er verließ Dickie ja sowieso, was gab
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