Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
angezogen – von den Aasfressern, den Furchtlosen, den Überlebenskünstlern. Den Schurken.
Diese Stadt könnte kein perfekteres Symbol haben.
»Ich hätte Sie nicht für einen Botenjungen gehalten, Holland.«
Holland spürte, wie seine Wangen rot wurden, als er sich zu Thorne umdrehte. »Weil ich es nicht bin, Sir.«
Thorne bedauerte seinen Ton. Es war ein Versuch von schwarzem Humor gewesen, hatte aber nur sarkastisch geklungen. Holland war bereits darüber hinweg. »Keable hat einfach gedacht, dass wir uns irgendwann mal treffen würden. Er hat versucht, Sie anzurufen …«
Thorne nickte. Viele Menschen hatten versucht, ihn anzurufen.
Dass Holland dieses irgendwie bizarre Angebot übermitteln sollte, war ein kluger Schachzug. Frank Keable war nicht unbedingt der beseelteste Polizist, aber er wusste, was um ihn herum vor sich ging. Er wusste seine Truppe einzuschätzen. Er hatte immer gespürt, welche Strömungen innerhalb der Sonderkommission herrschten, weit über die Frage hinaus, wer sauer war oder wer auf wen stand.
Die Ratte hatte sich auf ihre Hinterbeine gestellt und schnüffelte an den Papierkörben, die am Geländer hingen. Thorne blickte zu Holland hinüber. »Also, was denken Sie?«
Holland lächelte. Ein Teil von ihm fühlte sich geschmeichelt, weil er nach seiner Meinung gefragt wurde, doch der andere, größere Teil war sich bewusst, dass sie wahrscheinlich keinerlei Auswirkung haben würde. »Ich denke, es ist ein gutes Angebot, nüchtern betrachtet. Für mich hört sich das an, als könnten Sie als freier Polizist agieren, und solange Sie nicht in allzu große Schwierigkeiten geraten …«
»Oder Jeremy Bishop erwähnen?«
Holland sah keinen Grund, die Pille zu versüßen. »Es könnte weit schlimmer sein.«
Thorne wusste, dass Holland Recht hatte. Keable hatte nach der Entdeckung von Margaret Byrnes Leiche von Disziplinarmaßnahmen gesprochen, doch auf Grund der Ermordung von Leonie Holden hatte die Zurechtweisung eines im Alleingang agierenden Polizisten mit einer übertriebenen Vorstellungskraft an Wichtigkeit eingebüßt. Das hatte Keable ohnehin gesagt. Entweder war dies der Grund, oder er hatte seine eigenen Gründe, dass er die Sache noch nicht offiziell machen wollte und sich Zeit ließ, um darüber nachzudenken, was er am besten mit Thorne anstellen könnte. Egal, was er sich dachte, am Ende würde die Geschichte wahrscheinlich im Sand verlaufen.
Holland hatte ihm noch nicht alles erzählt.
»Sie wissen über die Fasern aus Bishops Kofferraum Bescheid.«
»Scheiße.« Thorne stieß mit dem Fuß in den Boden. Bei dem aufwirbelnden Staub und Kies huschte die Ratte schnell in Deckung. In der gerichtsmedizinischen Abteilung gab es jemanden mit einer großen Klappe. Das würde den Anruf von Hendricks erklären. Er musste mit ihm reden.
»Dann bin ich wohl ein bisschen lästig, was sich erübrigen würde, wenn ich das Angebot akzeptiere und so eine Art Berater oder was auch immer werde. Ist es das, was Keable sich vorstellt?«
»So hat er das nicht ausgedrückt, Sir.«
Berater. Thorne fragte sich, wo der Haken an der Sache war. Außer dem, der eindeutig zu sehen war.
Leonie Holden wurde zuletzt im Nachtbus nach Ealing gesehen. Ihre Leiche wurde vier Stunden später auf der Müllkippe im Tufnell Park gefunden.
Knapp vierhundert Meter von Thornes Wohnung entfernt.
Die Bedeutung dieser letzten Botschaft des Mörders an seinen Lieblings-Detective-Inspector konnte von niemandem übersehen werden.
Berater? Ein besseres Wort wäre »Köder«.
»Was halten Sie von Jeremy Bishop?«
Holland formulierte seine Antwort vorsichtig. »Ich glaube nicht, dass er Margaret Byrne umgebracht hat, Sir.«
»Angeblich hatte er auch für Alison Willetts ein wasserdichtes Alibi, und wir haben Lücken darin entdeckt.«
»Ich verstehe das alles immer noch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er Alison das hätte antun und sie in der knappen Zeit ins Krankenhaus hätte bringen können. Ganz zu schweigen vom Warum. Warum hat er sich solche Mühe gegeben, um sich ein Alibi zu verschaffen, das dann nicht wasserdicht ist?«
»Ich werde es rauskriegen, Holland. Und ich werde auch rauskriegen, wie er Margaret Byrne umgebracht hat.«
»Das hat er nicht, Sir.«
»An besagtem Tag wurde beobachtet, wie ein Mann, auf den seine Beschreibung passt, sich vor ihrer Wohnung rumgetrieben hat.«
»Zufall. Abgesehen davon ist die Frau von gegenüber durchgeknallt. Sie dachte, ich sei der Verdächtige.«
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