Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
der zu zwei schäbigen Tennisplätzen führte. Etwa alle hundert Meter tauchte eine aus Gras oder toten Bäumen geformte Figur auf. Organische Skulpturen, vielleicht ein Teil des Millennium-Projekts. Was für eine Zeit- und Geldverschwendung das gewesen war. Er hatte den 31. Dezember 1999 mit Phil Hendricks, einem Hühnchen Vindaloo und einer obszönen Menge Bier verbracht.
Dieser Ort war für einen Treffpunkt so gut wie jeder andere. Thorne zog seine Lederjacke aus, setzte sich auf eine Bank, die in den Asphaltweg geschraubt war, und blickte hinüber zur riesigen grünen Kuppel von St. Joseph. Das Wetter war warm, wenn man bedachte, dass der Oktober gleich um die Ecke wartete.
Ein Paar kam Hand in Hand auf ihn zu. Sie waren jung, vielleicht Anfang dreißig. Er trug beigefarbene Hosen und ein weißes Sweatshirt, sie enge weiße Jeans und ein cremefarbenes Oberteil. Sie gingen im Gleichschritt und lächelten über etwas, das sie sich vorher erzählt hatten. Als das selbstbewusste und in seinem eigenen Universum eingekapselte Pärchen näher kam, spürte Thorne, wie brennender Neid in ihm aufstieg. Die beiden wirkten so unbeschwert und makellos. Das Traumpaar eines Werbeagenten, das den Kaffee und die Croissants, die es in einer hübsch umgebauten Lagerhalle zu sich genommen hatte, bei einem Spaziergang verdaute. Thorne wusste, dass sie einer lukrativen Arbeit nachgingen, für ihre perfekten Freunde exotische Gerichte kochten und tollen Sex hatten. Sie genossen alles und zweifelten an nichts.
Ihre heile Welt war ohne Risse.
Er dachte an Anne. Warum war es für ihn so schwer, sie anzurufen?
Er hatte ihr an dem Tag, nachdem er Maggie Byrne tot aufgefunden hatte, eine Nachricht hinterlassen und gesagt, es sei etwas passiert, aber seitdem hatte er ihre Anrufe ignoriert. Es ging nicht nur um die Verbindung zu Bishop. Es ging darum, dass er etwas von sich zurückhielt – diesen düsteren und undefinierbaren Teil von sich, den er brauchen würde, wenn er in einem Stück aus der Geschichte herauskommen und die Morde stoppen wollte. Er war bereit, alles dafür zu riskieren, und er wusste, dass ihm Teile verloren gehen könnten, falls die Sache mit Anne Coburn ernstere Formen annahm. Sein Verhalten war wie ein Panzer, aber auch eine Tarnung, die durch den kleinsten Riss nutzlos wurde. Im Moment war Thorne noch nicht in der Lage, seine wunden Stellen offen zu legen.
Dennoch wollte er Anne in seiner Nähe haben. Er blickte dem jungen Pärchen hinterher, das in Richtung Pagode weiterging, die vor allem von denen besucht wurde, die ihre Körpersäfte gern im Freien austauschten. Er kam zu dem Schluss, dass er ein Idiot war. Er würde Anne anrufen, sobald er wieder zu Hause war. Was dachte er sich eigentlich? Er war doch nur ein Polizist, zumindest theoretisch.
Risse im Panzer? Mein Gott …
Kurz tauchte in seiner Vorstellung das Bild von ihm als Boxer auf, der vor einem großen Kampf nicht bumsen durfte. Dies war ein lächerlicher Vergleich, doch das Bild amüsierte ihn so sehr, dass er fünf Minuten später immer noch grinste, als seine Verabredung eintraf.
Es gab Momente, in denen es schien, als ob eine ihres Sprechvermögens beraubte Frau die einzige Person wäre, mit der Anne Coburn reden konnte.
Während sie allein in der Krankenhauskantine saß und ihren Salat auf dem Pappteller herum schob, dachte sie über ihr Versagen als Ärztin nach. Die Sitzungen mit Alison liefen eigentlich gut, doch es bestand eindeutig die Gefahr, dass das Hauptanliegen aus dem Blickfeld geriet.
Alison hatte Probleme mit ihrem Freund, und die Lage spitzte sich zu, dennoch hatte Anne den größten Teil der letzten Sitzung damit verbracht, über ihre eigenen Probleme zu jammern.
Probleme mit ihrer Tochter. Und ihrem Exmann. Und ihrem Liebhaber.
Die Situation zwischen ihr und Rachel war angespannt. Für beide war es ein Eiertanz, und beide waren sich sehr wohl bewusst, dass die kleinste Bemerkung zu einem großen Krach ausarten könnte. Es ging um die Nachprüfungen, für die Rachel nicht lernte, um die Abende, an denen sie nicht rechtzeitig ins Bett ging, und um die Wahrheit, die sie mit ziemlicher Sicherheit nicht sagte.
Der Grund war, wie Anne vermutete – nein, sie war davon überzeugt –, der Junge, mit dem sich Rachel traf.
Anne hatte es einmal beiläufig erwähnt, doch Rachels Reaktion, verschlossen und trotzig, hatte keine Zweifel daran gelassen, dass das Thema tabu war. Es war so dumm. Anne würde kein Problem mit einem
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