Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Akzent war noch nobler, als Thorne ihn in Erinnerung hatte. Trockener Humor kam da besonders gut.
»Wir treffen uns einmal die Woche mit ein paar von den Beamten der Homeless Unit. Nur um über alles zu plaudern, was so passiert.« Er musterte Thorne, schob sich die Brille hoch und wandte sich wieder seinem Brei zu.
Thorne sah Healey zu, wie er aß. Er wirkte fit und braun gebrannt in seinem Button-down-Jeanshemd. Andererseits sähen die meisten verglichen mit Thorne blendend aus. Oder verglichen mit einem anderen der kaputten, krätzigen, ausgelaugten oder käsigen Typen um sie herum. »Danke für Ihr Mitgefühl«, sagte Thorne. »Aber ehrlich gesagt ist das Ganze nicht der Rede wert.«
»Vielleicht brauchen Sie juristischen Rat …«
»Ich komm wunderbar klar.«
»Wir könnten Ihnen dabei helfen.«
Thorne sagte nichts. Stattdessen wandte er sich um und studierte das schwarze Brett. Er beschloss, diesmal den Literaturworkshop sausen zu lassen.
»Und wie läuft’s sonst so?«, fragte Healey. »Im Allgemeinen, mein ich?«
»War schon besser …«
»Ich weiß.«
»Wirklich?«
»Ich verstehe, wie schwer das ist.« Healeys Stimme klang plötzlich tiefer. Er erinnerte Thorne an einen allzu ernsthaften Pfarrer. Oder an Tony Blair. »Die Anpassung bereitet die größten Probleme …«
Tatsächlich bereitete es Thorne am meisten Probleme, sich an andere anzupassen, an die Art und Weise, wie anderen ihn wahrnahmen. Normalerweise gab es zwei Reaktionen: Entweder ging man ihm aus dem Weg, oder man ignorierte ihn. Im ersten Fall schlugen die Leute einen weiten Bogen, wer mehr Mitgefühl hatte, versuchte ihm so unauffällig wie möglich auszuweichen. Im zweiten Fall schien er absolut unsichtbar zu sein, Luft. Die Passanten taten, als hätten sie ihn überhaupt nicht gesehen. Beide Reaktionen waren in ihrer Verschlagenheit wunderbar britisch. Andererseits auch nicht schlimmer, fand Thorne, als die Reaktion mancher, wenn sie Leute trafen, die sie tatsächlich kannten. Wenn sie Bekannte begrüßten, die sie womöglich eine Weile nicht mehr gesehen hatten. Eine Floskel hasste Thorne besonders. Sie musste für vieles herhalten und wurde eingesetzt ohne Rücksicht darauf, wie krank oder kaputt der andere war oder wie fürchterlich seine Klamotten und Haare aussahen, wie viel er oder sie seit dem letzten Mal, als man sie sah, zugenommen hatte:
»Sie sehen so gut aus …«
Plötzlich legte sich eine Hand auf Thornes Schulter, und ein Klappergestell von einem Mann, mit dem er bereits ein-, zweimal gesprochen hatte, blickte ihn aus rot unterlaufenen Augen an. »Herrliche Zeiten, hä?« Er atmete Thorne den Dunst süßen Sherrys ins Gesicht. »Herrliche Zeiten …«
Thorne hatte keine Ahnung, wovon der Kerl redete. Er sah ihm nach, als er zum Nebentisch ging, um dort den Nächsten anzusprechen, und wandte sich wieder Healey zu. »Hab allerdings faszinierende Menschen kennen gelernt.«
»Wie lange sind Sie schon hier? Einen Monat oder so?«
»So etwas in der Richtung. Man verliert schnell den Überblick.« Thorne war sich nicht sicher, wie viele Obdachlose regelmäßig im Lift vorbeischauten. Dennoch drängte sich die Frage auf, ob Healey über alle Klienten so gut Bescheid wusste. »Und Sie?«
»Wie bitte?«
Thorne dachte an die Bemerkung Healeys, als sie sich vor ein paar Wochen im Gang über den Weg liefen. »Wir sind beide › neu hier ‹ , erinnern Sie sich? Haben Sie sich schon eingewöhnt?«
»Oh … ja, definitiv. Ich hab mich eingewöhnt. Nett von Ihnen, danach zu fragen.«
»Keine Ursache«, sagte Thorne.
»Die Leute begegnen einem neuen Besen gerne mit Misstrauen, verstehen Sie. Dann heißt es einfach in die Hände spucken und durch, egal, was die anderen denken. Ein gewisses Maß an Tunnelblick ist definitiv eine Hilfe.«
Healey klang nicht mehr besorgt, sondern beinahe schon schroff. Hinter dem netten, aber leicht trotteligen Akzent und dem Gutmenschen-Gehabe verbarg sich also Entschlossenheit. Thorne verstand sehr wohl, was Healey meinte. Tunnelblick hatte man auch ihm häufig vorgeworfen. Allerdings hatte man es nicht ganz so höflich ausgedrückt.
»Etwas davon könnte Ihnen dabei helfen, wieder runter von der Straße zu kommen«, sagte Healey.
»Vielleicht bin ich dadurch hier gelandet.«
»Möchten Sie darüber sprechen?«
»Muss nicht sein …«
Als Healey die Aluminiumfolie von seinem Joghurtbecher abzog, stand Thorne auf und nahm seinen Mantel von der Stuhllehne.
»War nett, mit Ihnen zu
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