Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
nicht ertrug. Porter war an die Furchen und Risse gewöhnt, die Kummer in Gesichtern anrichteten. Das bekam sie jeden Tag zu sehen. Aber in diesen Gesichtern war auch Hoffnung: dass der Albtraum bald vorbei sein möge, dass sie oder ein Kollege gute Arbeit leistete und sie die Person, um die sie sich so sorgten, bald wieder in die Arme schließen könnten. Es kam vor, dass diese Hoffnung fehl am Platze war. Dann schnitt es einem ins Herz, sie zu sehen. Aber nichts war so schlimm wie ihr völliges Fehlen.
Bei der Identifikation des Toten hielt sich die Hoffnung häufig bis zur letzten Sekunde. Die Hoffnung, hier liege ein schrecklicher Fehler vor, die Polizei habe sich geirrt, hier handle es sich nicht um ihre Frau/ihren Mann/ihr Kind. Manchmal, wenn tatsächlich ein Zweifel bestand, ob es sich um den Betreffenden handelte, gehörte es zu ihrer Aufgabe, genau hinzusehen. Aber noch kein einziges Mal, nicht einmal in diesen wenigen Fällen, hatte sie erlebt, dass diese Hoffnung bestätigt wurde. Sie hatte zugesehen, wie die Hoffnung starb, wie sie urplötzlich begraben wurde, verschwand, bevor der Betreffende Luft holte.
Also sah Louise Porter nicht mehr hin. Sie senkte in diesem Moment den Blick, um nicht zusehen zu müssen, wie die Hoffnung ausgelöscht wurde.
Danach setzte sie sich mit den beiden auf eine braune Plastikbank neben dem Eingang zur Leichenhalle. Francis Bristow und seine Frau hatten den Frühzug von Glasgow genommen und klammerten sich noch immer an ihre Reisetaschen – wie verwirrte Touristen, die die falsche Abzweigung genommen hatten.
»Wissen Sie, wo Sie schlafen werden?«, fragte Porter. »Haben Sie noch andere Verwandte hier?«
Joan Bristow saß an einem Ende der Bank. Sie sah zu ihrem Mann, der in der Mitte saß, und beugte sich dann über ihn hinweg zu Porter. »Wir haben nicht genau gewusst, was uns hier erwartet. Wie lange das dauert, nichts.«
»Ich versuche, das für Sie zu regeln«, sagte Porter.
»Wir haben nicht gewusst, verstehen Sie …«
Die Frau hatte eine schicke Jacke gefaltet auf dem Schoß liegen. Kathleen Bristows Bruder saß steif neben ihr und starrte vor sich hin, als studiere er jede Erhebung und jeden Riss an den primelgelben Wänden. Er trug polierte Budapester, ein Sakko und eine Krawatte. Seine Haare waren voll und cremefarben, die Augen hatten dieselbe blaue Farbe wie die seiner Frau und blickten wässrig hinter der Brille hervor. Wahrscheinlich war er Anfang siebzig, ein paar Jahre älter als seine Schwester. Aber Porter hätte nicht sagen können, ob es so etwas wie eine Familienähnlichkeit zwischen den beiden gab. Sie hatte die Fotos in dem Schlafzimmer nur flüchtig betrachtet und konnte das Gesicht eines Lebenden nicht mit dem vergleichen, was sie an der toten Kathleen Bristow gesehen hatte.
Als habe er Porters Gedanken gelesen, ergriff der alte Mann unvermittelt das Wort. »Ich versteh nicht, woher diese Blutergüsse um ihre Nase stammen«, sagte er. »Alles war blauschwarz, als ob sie geschlagen worden wäre.« Er flüsterte beinahe und sprach mit starkem Glasgower Akzent. Porter musste genau hinhören, um ihn zu verstehen. Er fuchtelte mit dem Finger vor seinem Gesicht herum und zeigte darauf. »Und da war was … da, mit ihrem Mund, da stimmte was nicht.«
Man hatte den beiden erklärt, wie Kathleen Bristow gestorben war, und sie vor der Identifizierung gewarnt, dass ihr Gesicht entstellt sei. Porter schreckte aus einer Reihe von Gründen davor zurück, Francis Bristow genau zu erklären, was mit dem Gesicht seiner Schwester passiert war.
Joan Bristows Akzent war nicht ganz so ausgeprägt wie der ihres Mannes. »Sie dürfen uns so was doch nicht sagen, Frank.« Sie drückte seine Hand und sah zu Porter. »Das ist doch so, meine Liebe?«
Dankbar für den gebotenen Ausweg nickte Porter und schaute auf den Finger, mit dem Kathleen Bristows Bruder noch immer vor seinem Gesicht kreiste. »Da wir von Verwandten sprachen, wir haben Sie angerufen, weil Sie die Einzigen waren, die sie als vermisst gemeldet haben. Wir gehen davon aus, die Verstorbene hatte keine Kinder …«
»Keine Kinder«, sagte Bristow.
Noch ein drittes Mal fielen die Worte, diesmal sagte sie seine Frau. Sie schüttelte den Kopf und flüsterte beinahe, als handle es sich hierbei um eine weitere, kleinere Tragödie. »Kath hat nie geheiratet, verstehen Sie? Sie hat viele Jahre mit einem ›Freund‹ zusammengelebt.« Dabei sah sie Porter an, falls diese die Anführungszeichen um das
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