Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
dass Sie Sarah Hanley einen Besuch hätten abstatten sollen?«
»Ich glaub schon. Ihr war mit Sicherheit klar, dass wir ein Verhältnis hatten. Sie hat uns einmal nach einer Sitzung im Pub gesehen. Vielleicht war das schon genug, um ihm Angst zu machen.«
»Aber warum jetzt?«
Sie setzte sich anders hin, legte den Kopf nach hinten und richtete die Worte an die Decke. »Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Ich kann nicht so tun, als hätte ich eine Ahnung, warum er das alles macht.«
»Du hättest ihn fragen sollen«, meinte Mullen. »Während eines eurer intimen Plauderstündchen am Telefon.«
»Bitte, Tony …«
»Ich kann es einfach nicht fassen, dass du gewusst hast, dass er Luke hat, und kein Wort gesagt hast. Er hat unseren Sohn, und du sagst nichts.«
Thorne sah zu Mullen, vielmehr zu dem, was von ihm noch übrig war, und trotz der Meinung, die er bis jetzt von ihm hatte, überwältigte ihn Mitgefühl für diesen Mann. Er hatte eine wichtige Information bewusst verschwiegen, weil er glaubte, nur einen einfachen Ehebruch zu verschweigen. Und er sich nicht bewusst war, was dabei auf dem Spiel stand.
»Anfangs dachte ich, er will mir nur Angst einjagen, verstehen Sie? Weil ich ihm gesagt habe, mit uns wäre Schluss und weil ich die Sache mit Sarah Hanley erwähnt habe. Er kannte diese Frau von irgendwoher, bezahlte sie, damit sie Luke von der Schule abholte, und ich dachte, nach einem Tag oder so wäre alles vorbei. Es ginge ihm nur darum, dass ich verstehe, worum es ihm geht.«
Jetzt war Thorne klar, dass ihn sein Gefühl wegen des Videos nicht getäuscht hatte. Dass er es merkwürdig gefunden hatte, dass sich Luke nicht an seinen Vater gewandt hatte. Man hatte dem Jungen gesagt, was er sagen sollte. Er hatte sich ausschließlich an seine Mutter gewandt, weil die Nachricht nur ihr galt und niemandem sonst.
»Was hat er gesagt?«, fragte Mullen. »Nachdem er Luke entführt hatte, was hat er da gesagt, als du mit ihm gesprochen hast?«
Sie wirkte, als sei dies die schwerste Frage, die man ihr bislang gestellt hatte. »Er hat gesagt, er mache das nur, weil er mich so liebt.«
»Lieber Gott!«
»Er glaubt das wirklich. Es geht ihm nicht gut.«
»Warum bist du nicht von Anfang an auf ihn eingegangen?« Mullen war ganz rot im Gesicht, sein Atem ging schwer. »Warum hast du dich nicht sofort bereit erklärt, alles zu tun, was er will, nur damit er Luke gehen lässt? Du hast doch das Video gesehen, du hast gesehen, was sie mit Luke gemacht haben.«
»Er hat gesagt, er wolle es auf keinen Fall einfach machen. Er hat versprochen, ihn nicht zu verletzen. Die Drogen, hat er gesagt, würden ihm nicht schaden. Er hat mir gesagt, er möchte sichergehen, dass ich weiß, dass er es ernst meint.«
»Ernst?«, fragte Thorne.
»Und dann, nach den ersten Tagen, konnte ich nichts mehr tun. Ich hatte solche Angst, weil alles eskalierte.«
Mullen versteifte sich in seinem Sessel, schlug auf die Armlehnen ein und trat ins Leere. »Er hat Menschen umgebracht. Verdammt noch mal, er hat angefangen, Menschen umzubringen.«
»Das mein ich doch!«, schrie sie. »Mir war klar, dass er die Kontrolle verloren hat. Dass ich unmöglich voraussagen konnte, was er als Nächstes tun oder wie er reagieren würde. Er hat gesagt, er würde Luke nicht wehtun, aber ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn ich der Polizei alles erzähle.« Sie sah zum Telefon. »Ich hab noch immer keine Ahnung. Mir blieb nichts übrig, als mit ihm zu reden, zu sehen, ob er Luke noch nichts getan hat.« Sie fasste sich an den Kopf, packte einen Büschel Haare und zog daran. »Ich hab alles versaut, das weiß ich. Aber es war so ein Durcheinander, so verrückt, dass ich einfach nicht gewusst hab, was ich tun soll.« Sie blickte wild zwischen ihrem Mann und Thorne hin und her. »Ich habe die ganze Zeit an Luke gedacht. Aber …«
Thorne nickte. Er wollte es nicht mehr hören. Sie hatte keine Tränen mehr, doch Maggie Mullens Gesicht sah aus wie geborstener Gips. Ihm fielen die Worte ein, mit denen sie beschrieben hatte, was an dem Tag geschah, als Sarah Hanley starb: »Es geriet nur alles außer Kontrolle«, sagte er.
Die nächste Stunde verging so langsam wie selten. Die Minuten krochen auf dem Bauch vorbei, jede auf der glitzernden Schleimspur ihrer Vorgängerin, während Thorne den Mullens dabei zusah, wie sie einander bekriegten. Wie sie sich mit ihrem Gebrüll das Fleisch vom Leib rissen, Anschuldigungen wie Keulen schwangen und mit
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