Tom Thorne 07 - Das Blut der Opfer
Überraschung, die Thorne liebte. Und die London immer wieder mal bereithielt.
»So einer hat mich mal angegriffen, als ich ein Kind war«, sagte Holland. »Scheißviecher.«
Thorne ging an der Mauer ein paar Meter Richtung Baumarkt entlang. Er kam zu einem Pfad, der hinter riesigen Metallcontainern und Holzpaletten zu einem kleinen Brachgelände am Kanal hinunterführte. Knappe zehn Meter weiter ging die von Sträuchern bewachsene Brache in den Parkplatz eines niedrigen grauen Pubs über. Ein Schild unter der St.-Georgs-Fahne versprach »Essen und Live-Fußball«.
Er ließ noch einmal in Gedanken das Video ablaufen.
Es war hier oder an einer Stelle, an der es wie hier aussah, wo Brooks sich versteckt hatte, um Martin Cowans’ schäbiges Stelldichein zu filmen. War er ihnen gefolgt? Vielleicht hatte Brooks Cowans eine Falle gestellt und die Nutte selbst bezahlt. Thorne versuchte, sich das verschwommene Bild von dem Mann und der vor ihm knienden Frau vor Augen zu rufen; sich die Konturen der Gebäude vorzustellen, die sich vor dem schwarzen Himmel dahinter abhoben. Er blickte sich in der vergeblichen Hoffnung um, etwas zu entdecken, das ihm vertraut vorkam.
»Suchen wir hier etwas?«, fragte Holland.
Thorne sah nur einen Gasometer in der Ferne und eine Frau, die aus einem der Reihenhäuser unterhalb von ihnen trat, eine Pakistani oder Inderin, die einen Stock schwenkte und damit eine Schar Tauben aus ihrem Vorgarten vertrieb.
Er war sich nicht sicher, was er getan hätte, wenn er etwas wiedererkannt hätte.
»Was ist das?«, fragte Holland und deutete nach unten.
Thorne sah hinunter. Da tanzte etwas im Wasser, fußballgroß und beinahe rund. Das Licht fiel darauf, wenn es gegen die schwarze Backsteinwand schlug. »Das ist eine Kokosnuss«, sagte er. »Eine in Plastik eingewickelte Kokosnuss.«
»Wie das?«
»Die Hindus hier machen das manchmal bei ihren religiösen Festen. Das ist eine Opfergabe. Der Kanal hier kommt einem heiligen Strom noch am nächsten.«
»Der Grand Union Canal?«
»Na ja, theoretisch können Kokosnüsse bis ins Meer hinausschwimmen. Vielleicht finden sie sogar eines Tages bis zum Ganges.«
»Das ist doch Schwachsinn. Sie werden in Southend an Land geschwemmt, wenn sie Glück haben.«
»Das ist nur eine Geste, Dave.«
Holland schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Kokosnuss abzuwenden. »Wär das denn überhaupt möglich?«
»Optimismus ist nie verkehrt«, meinte Thorne.
Vor allem, wenn einem sonst nichts blieb …
Sie liefen ein paar Minuten die Hauptstraße entlang und widerstanden der Versuchung, in dem Pub etwas zu essen. Stattdessen suchten sie einen Burger King auf. Thorne kam es vor, als wäre der Anflug von Schuldgefühl zu zweit besser zu ertragen, als sie ihre Whoppers, Pommes und Zwiebelringe zu einem Tisch am Fenster trugen und aßen.
»Riecht Sophie die Kippen an Ihnen?«, fragte Thorne.
Holland nickte und brummelte was mit vollem Mund. Thorne entging nicht der vorsichtige Blick, als der Name seiner Freundin fiel. Sie war nie Thornes größter Fan gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie sich je in die Haare bekommen hätten, dazu hatten sie sich nicht oft genug gesehen. Aber sie hatte das Gefühl, er sei die Art von Bulle, der Holland ihrer Ansicht nach tunlichst nicht nacheifern sollte. Was immer sie von ihm hielt, Thorne bezweifelte nicht, dass diese Frau nur Hollands Wohl am Herzen lag. Und dass sie eine ziemlich gute Menschenkennerin war.
»Das Baby hält sie wahrscheinlich ganz schön auf Trab.«
»Chloe ist drei «, sagte Holland.
»Sie wissen schon, was ich meine.«
Holland sah aus, als hätte er keinen blassen Schimmer. Er ging auf die Toilette und holte auf dem Rückweg noch eine Tasse Tee für sie beide.
»Mein Gott, dann müsst ihr euch bald den Kopf über eine geeignete Schule zerbrechen.«
»Das tun wir bereits, Herr Kollege.«
»Gibt’s was Ordentliches bei euch in der Gegend?«
»Sophie will raus aus London.« Holland senkte den Blick und rührte in seinem Tee.
»Okay.« Thorne fragte sich, wie lang diese Idee wohl schon im Raum stand. Und ob es bereits mehr war als eine bloße Idee. »Sie sind nicht scharf darauf?«
Holland zuckte die Schultern. Zumindest auf dieses Thema war er ganz und gar nicht scharf.
»Hoffentlich ist sie inzwischen nicht mehr so wütend wegen mir«, sagte Thorne. Holland wollte etwas entgegnen, aber Thorne ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ist schon gut. Ich weiß, was sie denkt. Das macht
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