Tom Thorne 07 - Das Blut der Opfer
sie gehen wollten. »Und für mich ist da nichts drin?«
Thorne schaute ihn nur an und wartete, dass er ihnen den Weg freimachte.
»Ich mein’s ernst.« Er klang zaghaft und verzweifelt. »Fünfzig Mäuse für die Zeit, die draufgeht.«
Thorne nahm eine weitere Sekunde von Tindalls wertvoller Zeit in Anspruch, um ihm zu sagen, er solle sich verpissen.
Im Lauf der Jahre hatte es regelmäßig Versuche gegeben, die Holloway Road aufzuhübschen. Feinkostläden waren gekommen und gegangen. Blödmänner hatten antiquarische Buchläden eröffnet, um sie ein Jahr später wieder zu schließen. Als stark befahrene Hauptausfallstraße Richtung Norden würde sie nie zu einer zweiten Highgate Hill oder Hampstead High Street werden. Was Yvonne Kitson nur lieb war, sie mochte die frischen, unaufgeregten Bars und Restaurants, die paar anständigen Clubs, in denen man tanzen oder Musik hören konnte, wenn man danach suchte. Eine Gegend, die ihr als Collegestudentin bestimmt gefallen hätte.
Sie beobachtete Harika Kemal, als sie mit zwei Freunden aus dem Studentenwerk kam und in ihrer Tasche nach einem Schal suchte. Kitson entging nicht, wie das Kinn des Mädchens nach unten klappte, als sie sie entdeckte.
»Kann ich fünf Minuten mit Ihnen sprechen, Harika?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bitte …«
Der Mann und die Frau, die mit Kemal herausgekommen waren, waren offensichtlich ein Pärchen. Der Mann trat auf Kitson zu. »Gibt es ein Problem?« Kitson war sich nicht sicher, ob er Türke war. Er hätte auch Grieche sein können. Er trug einen glänzenden Anorak mit einer pelzverbrämten Kapuze und eine Brille mit schmalen, viereckigen Gläsern.
Kitson griff nach dem Polizeiausweis.
»Können Sie sie nicht einfach ein bisschen in Ruhe lassen?«, sagte der Student.
Seine Freundin war Pakistani; untersetzt, mit einer Kurzhaarfrisur und einem Nasenstecker. »Und vielleicht was Nützliches tun«, fügte sie hinzu. »Wie zum Beispiel dieses Tier hinter Gitter sperren, das ihren Freund umgebracht hat?« Sie hatte denselben allamerikanisch-britischen Sarkasmus drauf, den Kitson auch von ihrer neunjährigen Tochter zu hören bekam.
»Ist schon okay«, sagte Kemal zu ihren Freunden. »Ich komm später nach.«
»Können wir hier irgendwo hingehen und ein Sandwich oder eine Kleinigkeit essen?«, fragte Kitson.
Das Mädchen klopfte auf die Tasche, die über ihrer Schulter hing. »Ich hab meinen Lunch dabei.«
Sie gingen über die Straße und liefen in die kleine Seitenstraße hinein. Neben einem irischen Pub fanden sie eine Bank, direkt an einem kleinen, etwas schlammigen Grasfleck. Als sie sich umblickte, sah Kitson, dass die beiden Studenten sich nicht von der Stelle bewegt hatten. Sie standen noch immer im Eingang des Studentenwerks und sahen zu ihnen herauf. Sie wandte sich wieder Kemal zu, die eine Plastikbox aus ihrer Tasche zog. »Was Ihr Freund vorhin sagte. Genau das versuchen wir zu tun.«
»Ich weiß.« Kemal wickelte ihr Sandwich aus der Alufolie.
»Und wir verscheißern Sie auch nicht: Wir kommen nicht weiter. Wir haben alles Menschenmögliche getan, verstehen Sie? Wir haben mit jedem gesprochen, der in Frage kommt, haben einen Aufruf über das Fernsehen geschaltet. Ich weiß, dass Sie die Sendung gesehen haben.«
Das Mädchen schwieg. Ein Zementlastwagen rumpelte an ihnen vorbei und blieb stehen, um links in die Hauptstraße einzubiegen.
»Die einzige Spur, die wir haben, sind Sie«, fuhr Kitson fort.
Kemal schüttelte den Kopf, eher resignierend als leugnend, wie Kitson fand. »Es ist so schwer«, sagte sie.
»Natürlich ist es das.« Eine vorhersehbare Reaktion, aber Kitson glaubte wirklich, dass es schwer war für das Mädchen. Mit dem Tod seines Freundes fertig zu werden und dabei zu wissen, was es wusste und lieber nicht gewusst hätte.
»Wie soll ich meiner Familie gegenübertreten?«
Kitson beugte sich auf der Bank vor, um dem Mädchen ins Gesicht sehen zu können. »Wessen Familie? Deniz’ Familie?«
Wieder schüttelte es den Kopf, und diesmal war die Geste eher noch schwerer zu verstehen.
»Ist schon gut, Harika. Wirklich.« Kitson sah zu, wie das Mädchen sein Sandwich drehte und wendete, ohne davon abzubeißen. Es war schwer, sich vorzustellen, wie ein Mädchen wie Harika zu einem Freund wie Deniz Sedat kam. Sie schien nicht der Typ von Mädchen zu sein, den Geld und schicke Autos beeindruckten, und sie war gewiss clever genug, um zu ahnen, woher das Geld kam. Kitson fragte sich, ob sie sich
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