Tom Thorne 10 - Tödlicher Verdacht
starrte, während Schweigen zwischen ihnen einkehrte. Sie sah aus wie eine Teenagerin, die älter sein wollte und sich große Mühe gab, sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihr etwas ausmachte, gemaßregelt zu werden. Sie wirkte enttäuscht, und Thorne ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie es vermutlich gewöhnt war, sich so zu fühlen. Außerdem verspürte er das Bedürfnis, mehr über den »Typen« zu erfahren, für den sie arbeitete. Wünschte sich, sie würde wieder anfangen zu quasseln.
»Sehen Sie, es war ziemlich daneben«, sagte er. »Aber Sie hatten vermutlich recht. Die Sache mit Monahans Sohn.«
Sie wandte sich vom Fenster ab.
»Ich will damit nicht sagen, dass Sie so was wieder machen sollen, okay? Aber, ja, sieht so aus, als hätte es funktioniert. Es hat die richtige Reaktion ausgelöst.«
Sie murmelte ein »Danke« und gab sich alle Mühe, nicht so erfreut zu wirken, wie sie es zweifellos war.
»Die kleine Ansprache am Schluss war übrigens auch ziemlich gut. Haben Sie ihn nur auf den Arm genommen oder …?«
»Ich habe jedes Wort so gemeint«, sagte Anna.
»Streng genommen kacken Häftlinge heutzutage nicht mehr in Eimer, aber abgesehen davon war das ziemlich ergreifend.«
Bislang hatte Thorne sie noch nie lachen sehen, zumindest noch nie richtig. Das war der beste Moment eines mittelmäßigen Tages.
Er betrat die riesige Gefängnisküche und steuerte geradewegs auf den Lagerraum am anderen Ende zu. Ein paar Insassen, die er nicht besonders gut kannte, musterten ihn, setzten dann jedoch ihre Arbeit fort – je weniger man sah und sagte, desto besser. Schließlich gelang es ihm, den Blick des Verwalters auf sich zu ziehen, nach dem er suchte. Er deutete auf den Lagerraum und klopfte mit der flachen Hand auf seine Tasche. Der Verwalter nickte und stimmte wortlos zu, gegen irgendeinen zukünftigen Gefallen die Tür zu bewachen.
Die Abmachung wurde nur mit einem Blick getroffen, mit einer kaum wahrnehmbaren Geste.
Er schloss die schwere Tür des Lageraums hinter sich und setzte sich neben ein Metallregal, in dem sich Suppen-, Tomaten- und Kidneybohnenkonserven im Großküchenformat stapelten. Dann holte er sein Handy hervor. Es handelte sich notgedrungen um ein kleines und einfaches Modell, doch für irgendwelchen Schnickschnack hätte er ohnehin keine Verwendung gehabt.
Sein Anruf wurde schnell entgegengenommen.
»Du hast dir Zeit gelassen«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit anzurufen.«
»Viel beschäftigt?«
Vor der Tür ertönten Stimmen. Er bat den Mann dranzubleiben, schloss die Hand um das Handy, wartete kurz. »Entschuldige.«
»Wo bist du?«
»Keine Sorge, hier ist es sicher.«
»Es bringt nichts, leichtsinnig zu werden …«
»Hör zu, heute waren Bullen hier.«
»Ich weiß.«
»Der Besucherbereich stinkt immer noch nach Polypen.«
»Warum, glaubst du, habe ich dir die SMS geschickt?«
»Und, was soll ich machen?«
Der Mann hielt inne, als würde er einen Schluck trinken. »Ich will, dass du anfängst, dir dein Geld zu verdienen.«
Louise hatte es nicht für nötig befunden, sich mit Thorne abzusprechen, bevor sie Phil Hendricks zu sich nach Hause eingeladen hatte. Er kam, als sie gerade Pasta auftischte, roch noch immer leicht nach Desinfektionsmittel und hatte eine Plastiktüte bei sich, in der Bierdosen schepperten.
Thorne sah sofort, dass sein Freund darauf aus war, ein bisschen auszuspannen. »Harter Tag im Büro, mein Lieber?«
»Ich kann was zu trinken gebrauchen«, erwiderte Hendricks. »Ich habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, einen Jugendlichen aufzuschneiden.« Er nahm eine Dose aus der Tüte und öffnete sie. »Ich meine, offensichtlich war er bereits von ein paar anderen Jugendlichen aufgeschnitten worden.« Er warf seinen langen schwarzen Mantel aufs Sofa und setzte sich an den kleinen Esstisch.
Was vom Innenministerium zugelassene Pathologen betraf, war Hendricks gelinde gesagt ungewöhnlich. Thorne hatte jedenfalls noch keinen anderen mit kahl rasiertem Kopf, zahlreichen Körper-Piercings und mehr Tätowierungen als ein durchschnittlicher Heavy-Metal-Gitarrist kennengelernt. Ihm war auch noch keiner begegnet, der so geschickt war wie Hendricks und so mitfühlend gegenüber den Opfern, die er sezierte. Seine Scherze – dargeboten mit perfektem Timing in flachem Manchester-Dialekt – waren zwar oft geschmacklos, doch Thorne wusste, was wirklich dahintersteckte.
Er hatte den Schmerz
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