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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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solche Schrift hatte ich noch nie gesehen. »Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne; und siehe, da waren die Tränen derer, so Unrecht litten und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten.«
    Ein eisiges Gefühl breitete sich in mir aus. Wann war dieser Text geschrieben worden? Die Tränen der Unterdrückten, die Macht der Unterdrücker und kein Trost auf beiden Seiten. Das schien die Welt zu beschreiben, genau wie sie jetzt war. Ich schluckte schwer und fuhr fort.
    »Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser als alle beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.«
    Zitternd klappte ich das Buch zu. Caleb beobachtete mich und runzelte verwirrt die Stirn. »Was bedeutet das?«, fragte er.
    »Dass ausgerechnet diese Stelle nicht für gewisse Ohren bestimmt war«, antwortete ihm eine vertraute Stimme.
    Beschämt sprang ich auf und stand Zeke gegenüber, der mit einem halb belustigten, halb besorgten Blick zu uns getreten war. »Lauf und hol dir Abendessen, Hosenscheißer«, befahl er Caleb, der daraufhin grinsend zu Ruth und der Gruppe hinüber trabte, die sich um das Mädchen versammelt hatte. Zeke musterte mich stirnrunzelnd, allerdings wirkte er eher fasziniert als verärgert. »Ich wusste gar nicht, dass du lesen kannst«, sagte er schließlich leise.
    Achselzuckend streckte ich ihm das Buch entgegen. »Ganz schön deprimierende Geschichte«, erwiderte ich nur, um zu verbergen, wie sehr mich der Text erschüttert hatte. Lächelnd griff Zeke nach dem Wälzer.
    »Manche Passagen schon, ja«, stimmte er mir zu. »Aber es gibt auch andere, die ziemlich tröstend wirken können, man muss nur wissen, welche.«
    »Zum Beispiel?«
    Er zögerte kurz, dann schlug er den dicken Lederband wieder auf und blätterte so gezielt zu einer bestimmten Stelle, als würde er den gesamten Text auswendig kennen. »Die hier«, sagte er dann, reichte mir das Buch und deutete auf eine Zeile. »Das ist mein Lieblingszitat.«
    »Zeke!«, rief jemand. Diesmal war es Ruths Stimme, die schrill durch das Lager gellte. »Hast du Darren gesagt, er könne deinen Anteil am Trockenfleisch haben?«
    »Was? Nein!« Zeke wirbelte herum, aber Darren lief schon lachend davon. Sofort sprintete Zeke hinterher, während Darren ihm zurief, er solle sich besser beeilen, wenn er noch etwas von seinem Essen haben wolle. Währenddessen beugte ich mich über die Textstelle, die Zeke mir gezeigt hatte.
    Mühsam kämpfte ich mich durch die altertümliche Sprache: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir.«
    Nette Vorstellung, dachte ich und sah zu, wie die beiden Jungs einander durch das Lager jagten. Aber ich wusste es besser. Jeb hatte recht: Es gab niemanden, der über uns wachte. Und je schneller Zeke das begriff, desto länger würde er in dieser Hölle überleben.
    Als ich am nächsten Abend aus meinem Zelt kroch, hockten Zeke und Darren ganz in der Nähe am Rand des Lagers und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Die Tatsache, dass sie ganz offensichtlich darum bemüht waren, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, stachelte meine Neugier an. Also klopfte ich mir den Dreck von den Ärmeln und schlenderte zu ihnen hinüber.
    »Ich wusste, dass so etwas passieren würde«, murmelte Darren gerade, als ich mich ihnen näherte. »Wir hätten Vorräte anlegen sollen, als wir die Möglichkeit dazu hatten. Wer weiß schon, wann wir das nächste Mal auf eine Stadt stoßen?«
    »Was ist denn los?«, fragte ich und hockte mich neben sie. Seufzend sah Zeke mich an.
    »Uns gehen die Lebensmittel aus«, gestand er. »Wenn es so weitergeht, haben wir in ein paar Tagen kein Essen mehr, selbst wenn wir die Rationen kürzen.« Aufgebracht strich er sich mit einer Hand durch die Haare. »Darren und ich überlegen gerade, ob wir auf die Jagd gehen sollen, aber Jeb mag es nicht, wenn die Gruppe sich aufspaltet. Zumindest nicht, wenn das Risiko besteht, auf Verseuchte zu stoßen. Außerdem haben wir nur die hier«, er hielt einen Bogen mit Köcher hoch, »was die Sache noch schwieriger macht. In freier Wildbahn ist es so gut wie unmöglich, sich an ein Reh heranzuschleichen, allerdings ist die Dämmerung der beste Zeitpunkt dafür.«
    Darren, der Zeke gegenüber hockte, schenkte mir ein flüchtiges Lächeln.

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