Tor der Daemmerung
eine kurz vor Sonnenaufgang, nachdem das Lager aufgeschlagen worden war. Es waren überschaubare Rationen, bestehend aus einer halben Dose Bohnen oder ein paar Streifen Trockenfleisch, eben allem, was sie finden, erlegen oder sammeln konnten.
Natürlich war die Essenszeit allseits beliebt, und nach einer anstrengenden Nacht, in der ohne Pause marschiert worden war, hatten alle einen Riesenhunger.
Alle außer mir. Es erforderte eine Menge Einfallsreichtum, um das Essen wieder loszuwerden, ohne dass jemand etwas bemerkte. Fleischstreifen oder trockene Sachen waren einfach, die verbarg ich in meinen Ärmeln oder Taschen, bis ich sie später wegwerfen konnte. Mit Bohnen aus der Konserve, eingelegten Früchten oder Eintopf in Schüsseln war das schon schwieriger. Falls möglich, verschenkte ich es oder kippte es jemandem in die Schale, aber wenn ich kein Misstrauen wecken wollte, konnte ich das nicht allzu oft machen. Manchmal log ich auch und behauptete, ich hätte meine Ration schon bekommen, und einmal aß ich im Beisein von Zeke und Jeb sogar ein paar Löffel Tomatensuppe und schaffte es, sie lange genug drin zu behalten, um mich ohne Hast hinter einen Baum zu verdrücken, wo ich dann alles wieder auskotzte.
Natürlich hatte ich Schuldgefühle, weil ich die Nahrungsmittel, die so knapp und wertvoll waren, derart vergeudete. Das Straßenkind in mir zuckte schmerzerfüllt zusammen, wann immer ich ein Stück gutes Fleisch in die Büsche warf oder eine halbe Dose Mais in irgendeinem Loch verschwinden ließ. Aber was sollte ich denn tun? Wenn ich nicht weiter den Anschein aufrechterhielt, ein Mensch zu sein, würden die anderen Verdacht schöpfen. So wie Ruth, die es sowieso schon auf mich abgesehen hatte. Manchmal konnte ich hören, wie sie mit anderen aus der Gruppe über mich redete und Misstrauen und Angst schürte. Die meisten Erwachsenen – also Teresa, Silas und Dorothy – beachteten sie nicht weiter, sie hatten andere Probleme als die Eifersüchteleien eines Teenagers. Aber einige andere wie Matthew, Bethany und sogar Jake begannen irgendwann, mich mit einem gewissen Misstrauen anzusehen. Und so frustrierend das war, ich konnte nichts dagegen tun.
Außerdem bereitete mir Jeb sowieso die größeren Sorgen, dieser stumme Richter, dessen scharfen grauen Augen so gut wie nichts entging. Allerdings schien er, obwohl er ihr Anführer war, nicht wirklich Teil der Gruppe zu sein, sondern immer etwas abseitszustehen. Er redete fast nie mit einem der anderen, und alle schienen Angst davor zu haben, ihn auch nur anzusprechen. In gewisser Weise war es gut, dass er sich von uns distanzierte, dadurch schien er keinerlei Interesse daran zu haben, was jemand sagte oder tat, solange er dabei seinen Anweisungen folgte. Hätte er nicht Zeke gehabt, der seine Befehle weitergab, hätte er wohl gar nicht mit der Gruppe interagiert.
Eigentlich hätte ich fast wetten können, dass ich mehr über die anderen wusste als er. Ich wusste, dass Caleb Süßigkeiten liebte und Ruth panische Angst vor Schlangen hatte. Als ich einmal eine Strumpfbandnatter am Straßenrand fand, machte ich mir einen Heidenspaß daraus, sie in ihr Zelt zu schmuggeln. Die Erinnerung an ihr Geschrei ließ mich noch den ganzen Abend kichern. Ich wusste, dass Teresa, die alte Frau mit dem kranken Bein, und ihr Mann Silas im kommenden Herbst ihren vierzigsten Hochzeitstag feiern würden. Ich wusste, dass Jake drei Jahre zuvor bei einem Angriff der Verseuchten seine Frau verloren und seitdem kein Wort mehr gesprochen hatte. Diese Informationen und Erinnerungen sickerten nach und nach zu mir durch und blieben in meinem Gedächtnis hängen, auch wenn ich mir alle Mühe gab, möglichst auf Distanz zu bleiben. Ich wollte nichts hören von ihrer Vergangenheit, ihrem Leben oder sonst irgendetwas über ihre Person. Denn ich wusste, dass mit jedem Tag die Entscheidung näher rückte, von wem ich mich nähren würde, und wie konnte ich die treffen, wenn ich wusste, dass Dorothy beim Anblick von Blut ohnmächtig wurde und die achtjährige Bethany im Winter einmal fast gestorben wäre, nachdem ein Fuchs sie gebissen hatte?
Doch es war vor allem Zeke, der mich immer wieder faszinierte und verwirrte. Dass alle ihn vergötterten, war offensichtlich. Obwohl er Jebbadiahs Stellvertreter war, packte er überall mit an und kümmerte sich darum, dass alle versorgt waren. Nie bat er um etwas, nie erwartete er irgendeine Gegenleistung. Er zeigte Respekt gegenüber den Älteren und war
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