Tor der Daemmerung
Gedanken an diesen Beinahe-Kuss musste ich mich einfach fragen: Hätte ich ihn geküsst, oder wäre ich diese wenigen Zentimeter weiter gegangen und hätte ihm die Kehle rausgerissen?
»Zeke!«, schrie Ruth noch einmal, ohne von dem Geschehen hier oben etwas zu ahnen. »Miss Archer hat mich gebeten, dich daran zu erinnern, bei dem Feuer draußen vor der Mauer Holz nachzulegen. Die Scheite sind hinter dem Wassertank aufgestapelt. Wenn du runterkommst, zeige ich dir, wo das ist.«
»Ich gehe schon«, sagte ich hastig, als Zeke sich über die Brüstung lehnte, um Ruth zu antworten. Mit einem verwirrten Blick hielt er inne, aber bevor er etwas sagen konnte, stieg ich bereits die Leiter hinunter. Wenn Ruth mit Zeke allein sein wollte, bitte schön. Sollte sie doch ihre Chance bekommen. In diesem Moment musste ich einfach nur Abstand zwischen uns bringen, bevor wir uns auf etwas einließen, das wir beide bereuen würden.
»Allison.« Mit sanfter Stimme versuchte er, mich zurückzuhalten. Als ich noch einmal nach oben sah, blickte ich direkt in sein trauriges, verwirrtes Gesicht. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hätte nicht … ich dachte …« Seufzend verstummte er und fuhr sich verunsichert durchs Haar. »Geh nicht«, bat er mich mit einem hoffnungsvollen Lächeln. »Ich werde auch ganz brav sein, versprochen.«
Aber ich nicht. Entschlossen schüttelte ich den Kopf und kletterte weiter. Mein Gewehr blieb oben auf der Plattform. Selbst unten am Boden spürte ich noch Zekes Blick auf mir, doch ich sah ihn nicht an.
Ruth empfing mich natürlich mit finsterer Miene, aber ich schenkte ihr genauso wenig Beachtung und machte mich schnell auf den Weg zum Wassertank, der am anderen Ende des Hofes stand. Ihre Schuhe klapperten lautstark, als sie die Leiter erklomm und sich zu Zeke gesellte, doch ich zwang mich, stur weiter zu gehen. Ruths unbeirrbare Anbetung würde Zeke hoffentlich davon abhalten, mir zu folgen, auch wenn ein kleiner Teil von mir sich genau das wünschte.
Es ist besser so , sagte ich mir, als ich an der Scheune vorbeiging. Aus ihrem Inneren drangen leise Stimmen und zufriedenes Blöken. Der Rest unserer Gruppe machte das Beste aus dieser unerwarteten Marschpause. Wahrscheinlich waren sie erleichtert, dass sie nicht durch den von Verseuchten besiedelten Wald ziehen mussten.
Und es war viel zu knapp , setzte ich meinen Gedankengang fort und eilte hastig am Scheunentor vorbei, bevor mich noch jemand entdeckte. Was hättest du gemacht, wenn Zeke es herausgefunden hätte? Glaubst du wirklich, er würde dich noch mögen, wenn er wüsste, was du in Wahrheit bist? Gedankliches Schnauben. Du hast doch gesehen, wie er sich gegenüber den Verseuchten verhalten hat. Er würde dir ohne zu zögern einen Pfahl ins Herz rammen oder eine Kugel durch den Kopf jagen. Er würde dich fallen lassen, genau, wie Stick es getan hat.
Der winzige Schuppen, in dem das Feuerholz lagerte, stand im Schatten der Zisterne und bestand gerade mal aus drei Holzwänden und einem Wellblechdach. Ich hatte gerade begonnen, einige der Holzscheite in eine verrostete Schubkarre zu laden, als ich plötzlich ein leises Stöhnen hörte.
Wachsam legte ich eine Hand an mein Schwert und wartete reglos ab. Da war es wieder: das leise, verzweifelte Klagen eines Menschen, der starke Schmerzen hat. Es drang hinter dem Schuppen hervor.
Ohne meine Waffe loszulassen, schob ich mich um das Holzkonstrukt herum, jederzeit bereit, die Klinge zu ziehen. Doch als ich sah, was dieses Geräusch verursachte, ließ ich den Arm sinken. Es gab keinen Grund zur Vorsicht.
Hinter dem Holzschuppen entdeckte ich einen großen, eisernen Käfig. Die dicken Gitterstangen standen dicht zusammen, allerdings nicht so eng, dass man nicht hätte hineinsehen können. Seine Tür war von außen an zwei Stellen gesichert, einmal mit einem Vorhängeschloss und dann noch mit einer dicken Kette. Selbst der Boden des Käfigs war vergittert, damit sein Insasse nicht mit dem Erdboden in Berührung kam. Über den Stangen lag eine dünne Strohschicht, die den Geruch nach Urin, Jod und Blut aber nur teilweise aufsog.
In der hintersten Ecke dieses Gefängnisses hatte sich eine Gestalt unter einer Decke zusammengerollt und wandte mir nun ihr vertrautes, bärtiges Gesicht zu.
Der Anblick schockierte mich. »Joe?« Nur mit Mühe erkannte ich den Mann, den Zeke und ich durch den Wald geschleppt hatten. »Was machst du denn da drin?«, fragte ich verstört. Ich konnte das Blut an seinem
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