Tor der Daemmerung
Außerdem wurde es zunehmend schwieriger, mein Geheimnis zu wahren. Früher oder später würde ich mich verraten, oder jemand würde eins und eins zusammenzählen und erkennen, was in ihrer Mitte lauerte. Und dann würden Jeb oder Zeke mir einen Holzpfahl durch die Brust treiben oder mir den Kopf abschlagen. Zeke hatte mit angesehen, wie Verseuchte seine Freunde und seine Familie umbrachten, außerdem war er der Protegé von Jebbadiah Crosse. Er würde wohl kaum akzeptieren, dass sich in der Gruppe ein Vampir herumtrieb, ganz egal, was er mir zum Thema Vertrauen erzählt hatte.
Womöglich wurde es Zeit zu verschwinden. Nicht heute Nacht – dafür war die Dämmerung schon zu nah –, aber bald. Wenn die Gruppe die Festung verließ, ergab sich vielleicht eine gute Gelegenheit. Jeb wollte nicht länger bleiben als unbedingt nötig, das wusste ich, er war jetzt schon ungeduldig genug, sich wieder auf den Weg zu machen. Ich würde sie noch durch den Wald begleiten und vor den Verseuchten beschützen, und mich dann aus dem Staub machen, bevor es jemandem auffiel.
Wo willst du dann hin? , schien mein Spiegelbild zu fragen. In meiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß, aber ich schluckte ihn herunter und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, flüsterte ich. »Spielt das denn eine Rolle? Solange ich weit genug weg bin von Zeke, Caleb, Darren und den anderen, ist es mir egal, wohin es mich verschlägt.«
Sie werden dich vermissen. Zeke wird dich vermissen.
»Sie werden drüber wegkommen.« Entschlossen kehrte ich dem Spiegel den Rücken, aber meine Gedanken drehten sich weiterhin wild im Kreis. Ich wollte nicht gehen. Caleb, Bethany und Darren waren mir ans Herz gewachsen. Selbst Dorothy war auf ihre Art liebenswert. Mit den anderen sprach ich kaum, und bei manchen von ihnen – das heißt bei Ruth und Jebbadiah – wäre ich heilfroh, sie niemals wiedersehen zu müssen, aber der Rest der Gruppe würde mir mit Sicherheit fehlen.
Insbesondere ein gewisser Junge mit strahlenden Augen und einem offenen Lächeln, der in mir nur das Gute sah. Und der nicht ahnte … was ich wirklich war.
In dieser Nacht behielt ich im Schlaf mein Schwert dicht bei mir und zog mir die Decke fest über den Kopf. Niemand störte mich, oder zumindest war das Zimmer unverändert, als ich am nächsten Abend aufwachte. Draußen zuckten grelle Blitze über den Himmel und in der Ferne grollte Donner. Falls Jeb in dieser Nacht aufbrechen wollte, würde es ein langer, nasser Marsch werden.
Schon auf der Treppe hallten mir Stimmen entgegen und ich fand die Gruppe im Erdgeschoss versammelt, wo alle in der Küche vor einem enormen Holztisch anstanden, der den halben Raum einnahm. Ruth und Martha schöpften Eintopf in Trinkschalen und verteilten sie, gleichzeitig stand am Ende des Tisches eine große Schüssel mit Maismuffins, aus der sich jeder bedienen konnte. Trotz dieses Festmahls herrschte am Tisch gedrückte Stimmung, selbst die Kinder aßen schweigend und wagten kaum den Blick zu heben. Was war passiert? Jeb war nicht anwesend, Patricia auch nicht, aber als ich mich umsah, entdeckte ich Zeke, der mich über den Tisch hinweg musterte.
Sobald sich unsere Blicke trafen, wandte er sich ab, nahm sich einen Muffin aus der Schüssel und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Raum.
Ein schmerzhaftes Band legte sich um meine Brust. Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen, um mich für letzte Nacht zu entschuldigen, aber ich tat es nicht. Es war besser, wenn er mich hasste – bald würde ich sowieso aus seinem Leben verschwinden.
Stattdessen ging ich zu Darren hinüber. Er lehnte in einer Ecke an der Wand und tauchte sein Brot in die Suppe. Mit einem stummen Nicken nahm er meine Anwesenheit zur Kenntnis, dann widmete er sich wieder dem Essen. Dabei wirkte er nicht besonders feindselig, was vermuten ließ, dass Zeke ihm gegenüber nichts erwähnt hatte.
»Was ist denn los?«, fragte ich und stellte mich neben ihn an die Wand. Mit einem schnellen Seitenblick schluckte er den Brotbrocken runter und antwortete murmelnd: »Wir brechen bald auf.« Er wies zur Tür, wo ordentlich aufgestapelt die Rucksäcke bereitlagen. »Wahrscheinlich schon in ein paar Stunden, wenn alle gegessen haben. Hoffentlich kommen wir hier weg, bevor der Sturm losbricht, der Regen wird unsere Geräusche und Geruchsspuren vor den Verseuchten verbergen. Jeb spricht gerade mit Patricia. Sie versucht zwar, ihn dazu zu überreden, dass wir noch ein oder zwei Nächte
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