Tore der Zeit: Roman (German Edition)
verwilderten Garten fand sie das richtige Kraut gegen Wundbrand oder Fieber. Und sie konnte fluchen wie ein Bierkutscher.
»Die Angeln sind nicht mit Mörtel befestigt, sondern eingeschlagen«, stellte sie fest. Ihre Stimme klang zufrieden. »Hier. An dieser Stelle muss der Dorn sitzen. Tief im Stein. Das ist gut. Vielleicht gelingt es mir, die Magie hier hindurchzuschicken. Dann fließt sie in die Mauer und von dort aus in den Boden, ohne Schaden anzurichten. Sobald wir das Gitter anfassen können, wird Ghost uns helfen, das Tor aus den Angeln zu reißen. Aber wir sollten uns beeilen.«
Lucian verschränkte die Arme. »Dann denkst du also dasselbe wie ich? Cezlav ist fortgeritten, um uns an Velasco zu verkaufen? Er will sich das Kopfgeld verdienen, das mein Vater auf uns ausgesetzt hat?«
Ravenna nickte. »Und ich würde mich nicht wundern, wenn er anschließend versucht, bei Beliar die doppelte Summe herauszuschlagen.«
Sie hob ein Stück Kohle auf und fertigte auf dem Mauerwerk ein Aufmaß der Verankerung an. Dabei nutzte sie Elle, Handspanne und Daumenbreite, um die Abstände zu prüfen. Mittelalterliche Maße.
Lucian drehte sich zum Hof und lockte den Schimmelhengst heran. Ghost näherte sich zögernd. Er schnaubte laut, den Kopf zum Boden gesenkt, während er den nachschleifenden Anbindestrick immer wieder in den Dreck trat. Bei jedem Ruck warf er den Kopf hoch und witterte. Die ungewohnten Gerüche in der Schmiede machten ihn scheu.
»Und nun eine Quizfrage für unsere Zuschauer«, murmelte Ravenna, während sie in einem verdreckten Korb herumkramte, der in einer Nische stand. »Warum heißt Lucians Pferd Ghost?«
Im Stehen schaute er auf sie herunter. Die flirrende Matrix spiegelte sich in ihren Augen und umhüllte ihr Haar und den weichen Pelzkragen mit fluoreszierendem Glanz. In diesem Augenblick sah sie gespenstisch aus. Eine Hexe aus einer anderen Zeit. Eine Magierin der Zukunft.
»Das habe ich mich schon immer gefragt«, fuhr sie fort, als er nicht antwortete. »Warum nennst du ihn so? Alle Hexenpferde haben so komische Namen. Warum also Ghost?«
»Weil ich auf seinem Rücken blitzschnell auftauchen und wieder verschwinden kann«, verriet ihr Lucian. »Wie ein Geist. Die Macht des Königs beruht auf der Magie der Sieben, nicht auf militärischer Überlegenheit. Deshalb ist es gut, wenn man kommt und geht wie ein Schatten. Ramon hat diesen Namen ausgesucht, als Ghost noch ein Fohlen war. Alle Hexenpferde tragen solche Namen, weil sie von der Feeninsel stammen. Aber nun die Gegenfrage: Wieso heißt Ravennas Pferd Willow?«
»Keine Ahnung«, seufzte sie, und sie lachten beide, weil es endlich einmal nicht auf die richtige Antwort ankam. »Sag bloß, da steckt auch Ramon dahinter?«
Lucian nickte. »Bäume stehen oft in der Nähe von Portalen. Besonders Weiden zeigen Tore an. Deshalb hat er die Stute für dich gewählt.«
»Torbäume«, murmelte Ravenna. »Was es nicht alles gibt.«
Sie blinzelte und rieb sich über die Stirn. Dann wickelte sie ihr Haar im Nacken zusammen und steckte es fest. »Zittere ich? Und wie ich zittere«, stellte sie fest. Aus dem Korb hatte sie einen Hammer und einen Spaltkeil geholt. Als sie die Spitze des Keils ansetzte, hielt Lucian die Luft an. Falls sie abrutschte und mit dem eisernen Keil gegen das Tor stieß …
Er wagte kaum hinzusehen. Eine Zuckung, eine Veränderung im Fluss der Matrix, und der Fluch würde auf das Eisen in Ravennas Hand überspringen. Doch sie wusste, was sie tat. Die Hammerschläge hallten hell und gleichmäßig durch die alte Schmiede. Mit jedem Hieb drang die Keilspitze tiefer in die Fuge ein. Nervös verfolgte Ghost die Ereignisse im Turm.
»Dhreanier« , stieß Ravenna hervor. »Dhreanier!«
Lucian hatte dieses Wort noch nie gehört. Und er war sich sicher, dass es auch seiner Hexe in diesem Augenblick zum ersten Mal über die Lippen kam. So war es immer mit den magischen Beschwörungen – im richtigen Augenblick waren sie einfach da.
Ravenna schwitzte. Mit kräftigen Hammerschlägen trieb sie den Keil immer tiefer in die Mauer.
»Jetzt müsste es eigentlich gleich … huh!«, keuchte sie. Ohne Vorwarnung brach die Matrix zusammen. Nun trennte sie nur noch ein gewöhnliches Gitter von der Freiheit. Als Ravenna das Schloss packte und kräftig daran rüttelte, sprang es nicht auf.
»So ein Mist«, stöhnte sie enttäuscht. »Ich dachte, vielleicht hält der Bann auch das Schloss zusammen. Aber dem ist nicht so.«
»Das macht
Weitere Kostenlose Bücher