Tore der Zeit: Roman (German Edition)
schon – schenk uns zum Abschied ein Lächeln!«, riefVadym wieder.
Ravenna reckte den Arm und zeigte dem russischen Magier ein ziemlich unanständiges Zeichen, den digitus impudicus.
»Wann begreift ihr endlich, dass wir alle manipuliert werden?«, schrie sie. »Ihr alle, wie ihr da steht, ich, Vadym, Lucian – sogar der Graf und seine Begleiter! Das alles gehört zu Beliars Plan! Ihr seid die Statisten, die Pausenclowns, und wir die unglücklichen Idioten, die sich diese Schlacht liefern müssen. Vadym, du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Beliar würde dir den Hals brechen, um zu erreichen, was er will. Dann fehlt dir mehr als ein Arm.«
»Soll er mir doch den Chals brechen! Ist mir egal – solange wir den Startplatz des Rennens finden!«, schrie der Magier zurück. »Ich bin sicher, deine Karte führt uns zum Ziel. Oder was meinst du?«
Er entrollte das Pergament und hielt es hoch. Lucian glaubte im ersten Moment, auf der Schriftrolle tanze ein Sonnenfleck. Dann erkannte er, dass es ein magisches Leuchten war: Der Fleck befand sich genau dort, wo die Schmiede stand. Sobald sich Vadyms Rappe bewegte, wanderte das Licht auf der Karte umher und zeigte den Russen den Weg.
»Das ist nicht fair«, fuhr Ravenna auf. »Das ist einfach nicht fair!«
Vadym und seine Freunde schienen den Zwischenruf urkomisch zu finden. Sie lachten, bis ihnen Tränen in den Augen standen. Dann rollte der russische Magier die Karte ein und tippte sich frech an die Kappe.
»Leb wohl, Ravenna«, winkte er zum Abschied. »Auch wenn es vermutlich ein recht kurzes Dasein wird. Wenn wir gewonnen haben, trinken wir auf euch.«
Dann trabten er und seine Begleiter zur Straße hinauf.
»Kannst du den Bann um den Riegel auflösen?«, fragte Lucian. Er hatte gerade lange genug gewartet, bis die Reiter außer Sicht waren.
»Wie soll das gehen?«, stöhnte Ravenna. »Siehst du diese Schriftzeichen? Das ist Russisch! So eine Art kyrillische Matrix, ein magisches Raster, was weiß ich. Jedenfalls habe ich so etwas noch nie gesehen. Und das Tor in der Schmiede können wir auch nicht benutzen, denn es führt ins Jahr 741.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Thierry.
Statt einer Antwort steckte Lucian zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Hinter der Scheune ertönte ein schrilles Wiehern. Er nickte mit grimmiger Zufriedenheit.
»Wenigstens haben uns diese Schufte die Pferde dagelassen«, stellte er fest. Russische Ehrenmänner, dachte er kopfschüttelnd. Und ein verräterischer Graf.
»Geht in die Schmiede und holt ein Seil«, befahl er den beiden Filmemachern. »Ein langes. Außerdem brauchen wir eine Eisenstange.«
»Sie wollen das Tor aus den Angeln reißen?«, fragte Thierry. Plötzlich nahm sein Gesicht einen hoffnungsvollen Ausdruck an.
Während sich die beiden Kameraleute auf die Suche machten, pfiff Lucian erneut. Das Hufgetrappel und Schnauben wurden heftiger, doch es bedurfte eines stummen, magischen Rufs, damit Ghost freikam. Mit zerrissenem Halfter trabte der Silberschimmel über den Hof.
»Die hat der Schmied gemacht«, murmelte Ravenna.
Lucian drehte sich um. »Was?«
»Die Tür.« Mit verschränkten Armen musterte seine Hexe die Torangeln, in denen das Gatter aufgehängt war. »Das ist echte schmiedeeiserne Handwerkskunst. Sieht ganz nach Jodok aus.«
Sie deutete auf das Zunftzeichen, das ins Gatter eingearbeitet war: Amboss, Hammer und Zange in einem Zirkel.
Lucian nickte. »Du hast ihn ja kennengelernt. Er ist ein Meister seines Fachs.«
»Genau wie ich«, erwiderte Ravenna. »Das Eisengitter können wir wegen des Bannfluchs nicht berühren. Aber das Mauerwerk … da sieht es schon anders aus.«
Vorsichtig betastete sie die Wand. Die Fugen waren kaum zu erkennen, so nahtlos passten die Steinquader aufeinander.
»Mal sehen … wir haben grob behauene Felsen, Eisenbänder und die Angeln«, murmelte die junge Hexe. »Vielleicht gelingt es mir, den Fluch umzukehren. Oder abzuleiten. Schließlich ist der Bann auch nichts anderes als ein Teil des Stroms, der durch das Tor fließt.«
Behutsam schob sie die Hand in den Spalt zwischen Gatter und Mauer. Das flimmernde Licht malte eine harte, blaue Linie auf ihr Handgelenk, dünn wie der Schatten eines Fallbeils. Fasziniert sah Lucian zu, wie ihre Finger Zwiesprache mit dem Mauerwerk hielten. Seine Hexe besaß viele Talente. Sie konnte Stein so behauen, dass die Gesichter der Statuen Leben erhielten und die Gewänder üppige Falten warfen. In einem
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