Tore der Zeit: Roman (German Edition)
obligatorischen Küsschen, das eine rechts, das andere links, à la Parisienne. Dann ging sie zu Lucian und wollte ihn linkisch umarmen. Als sie merkte, dass er den Arm in der Schlinge trug, wich sie verlegen zurück. Sie murmelte eine Entschuldigung und schritt zum Ausgang.
»Pass gut auf ihn auf«, rief sie Ravenna zu. Dann war sie verschwunden.
Ravenna stand auf und warf beide Pappbecher in einen Abfallbehälter. »Alles in Ordnung? Was hat der Arzt gesagt? Du bist ziemlich blass.«
»Ich habe meine Knochen gesehen.« Lucian klang erschüttert. »Ihr habt hier Licht, in dem man seine Knochen sieht. Behaupte nie wieder, in deiner Zeit verstünden die Leute kaum etwas von Magie. Dann fange ich auch nicht wieder von den Drachen an.«
»Es ist keine Magie«, seufzte Ravenna. »Es sind Strahlen, so genannte … ach, vergiss es. Ist nicht so wichtig.« Sie fasste ihn an der linken Hand. Auch dieser Arm war bandagiert. »Und was ist nun mit deinen Knochen? Gebrochen?«, erkundigte sie sich.
Lucian schüttelte den Kopf. »Ausgerenkt. Und jetzt wieder eingerenkt.« Sie zuckte mitfühlend zusammen. »Der Heiler hat gesagt, es wird besser, wenn man den Ellenbogen eine Weile nicht beugt. Und er hat mir Schmerztabletten gegeben.«
»Du solltest dich schonen«, meinte Ravenna. »Wie es aussieht, haben wir jetzt auch keine Eile mehr. Die Show ist vorbei. Vielleicht sogar für immer.«
Schweigend gingen sie durch den langen Gang. Die Flure wirkten wie ausgestorben. Es roch nach Chlor und Früchtetee. Die Besuchszeit war längst vorbei – vielmehr hatte sie noch gar nicht angefangen. Auf der Uhr neben dem Schwesternzimmer war es jetzt kurz vor halb fünf.
»Komm«, flüsterte Ravenna und zog Lucian zu einem Stationszimmer. »Ganz leise jetzt.«
Lautlos öffnete sie die Tür und schlich in den Raum.
Das Bett stand direkt am Fenster. Yvonne schlief ruhig und entspannt. Ihre Hand lag auf einer aufgeschlagenen Zeitschrift. Behutsam zog Ravenna das Magazin unter ihren Fingern hervor. Als sie das Heft auf den Nachttisch legte, stellte sie fest, dass es sich um die brandneue Ausgabe des Illusionist handelte. Auf der Titelseite wurde ein Exklusiv-Beitrag über das WizzQuizz angekündigt.
Ravenna drehte die Zeitschrift um und stellte die Teetasse darauf. Unnötigerweise zupfte sie an der Bettdecke herum. Yvonne bewegte sich, wurde aber nicht wach. Sie lächelte träumend. Das Kissen verschwand fast unter ihren hellblonden Locken. Noranis Amulett auf ihrer Brust hob und senkte sich gleichmäßig.
Ravenna beugte sich vor, bis ihr der warme Duft von Yvonnes Haaren in die Nase stieg.
»Ich verzeihe dir«, hauchte sie. »Denn ich weiß nun, wie man Schwarzmagier bannt: indem man euch eure Untaten vergibt. Deshalb verzeihe ich dir, was auch immer du mir und Lucian angetan hast. Und nun, Fürstin des Feuers, sei entlassen.«
Yvonnes Atem stockte. Dann folgte ein Seufzer der Erleichterung. Mehr geschah nicht.
Ravenna richtete sich auf. Als sie hörte, wie sich Lucian hinter ihr bewegte, drehte sie sich um.
»Ist er das?«
Der junge Ritter starrte in die Wiege, die neben dem Bett stand. Ravenna stellte sich neben ihn. Sie nickte. Das Baby war wach. Der Junge schaute sie aufmerksam an. Er hatte große, dunkle Augen und ein rosiges Gesicht.
»Alles ist gut gegangen«, wisperte Ravenna. »Zum Glück. Da war ein Hubschrauber, und alles ging sehr schnell. Die Ärztin meinte, wir hätte keine Minute länger warten dürfen.«
»Hilf mir mal«, murmelte Lucian. Mit der linken Hand drehte er das Neugeborene auf die Seite. Ungeschickt knöpfte er das winzige Jäckchen auf.
»Was machst du denn? Was wird das?«, wisperte Ravenna, als er den Strampler von den Schultern des Babys zog. »Du regst ihn auf, und wenn er schreit, wird Yvonne wach, und dann müssen wir ihr erklären, wieso wir hier bei ihr im Zimmer stehen.« Nervös schaute sie zum Bett.
Lucian ließ sich nicht beirren. »Das ist mein Sohn«, sagte er. »Was gibt es da zu erklären?«
Aufmerksam ließ er die Finger über die weiche, faltige Haut auf dem Rücken des Babys gleiten. Besonders eine Stelle unter dem linken Schulterblatt nahm er in Augenschein. Der kleine Junge gab keinen Laut von sich.
»Gut«, seufzte Lucian schließlich. »Ah, das ist gut.«
Ravenna beobachtete ihn besorgt.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er sie. »Ihm fehlt nichts. Vielmehr hat er nichts, was da nicht hingehört.«
»Was hast du denn erwartet?«, fragte sie.
»Dich habe ich auch
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