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Torso

Torso

Titel: Torso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Zumutung war ja nicht nur die Tat an sich. Nein. Es war der Zwang, die Tat nachvollziehen, sie im Geiste selbst noch einmal begehen zu müssen. Anders war den Subjekten, die so etwas taten, ja nicht beizukommen. Man musste sich diesen Perversen anverwandeln, um sie aufzuspüren.
    Sie hatten die Naht an der Unterseite des Tieres unverzüglich geöffnet. Für die Spurensicherung wäre es natürlich besser gewesen, Dr. Weyrich hätte die Erstuntersuchung im Institut vornehmen können. Aber dort, wo die Naht aufklaffte, war ein menschlicher Finger zu sehen gewesen. War ein Mensch in das Tier eingenäht worden? Es war kaum vorstellbar, aber sie durften keinerlei Risiko eingehen. Bis eben hatten sie es nur mit einem Tierkadaver zu tun gehabt. Jetzt war alles anders.
    Bitte kein Kind oder Baby, schoss es Zollanger in den letzten Sekunden durch den Kopf, bevor die Wunde unter dem Skalpell aufriss und der Bauchinhalt des toten Lamms vor ihre Füße rutschte. Niemand sprach ein Wort. Einige Sekunden lang hörte man nur das Klicken von Harald Findeisens Fotoapparat. Jetzt war keine Eile mehr geboten. Der menschliche Unterarm vor ihnen auf dem Boden glänzte gelbbraun. An der Schnittstelle des Stumpfes hatten sich die Haut und das darunterliegende Fett- und Muskelgewebe so weit zurückgezogen, dass der Knochen freilag.
    Dr. Weyrich erhob sich und trat zwei Schritte zurück. Das Verfahren war eingespielt, und es bedurfte keiner Worte. Die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass sich in dem Kadaver noch etwas Lebendiges, Menschliches befunden hätte, war nun ausgeschlossen. Also hatten sich die Prioritäten wieder verschoben. Findeisen machte seine Aufnahmen. Günther Brodt packte seine Gerätschaften aus. Alle anderen entfernten sich zunächst vom Tatort.
    »Ich will, dass Frieser sich das anschaut, bevor viel verändert wird«, sagte Zollanger zu Thomas Krawczik. »Er ist unterwegs.«
    »Okay, Chef.«
    »Ich werde jetzt erst einmal mit dem Pächter sprechen. Udo, du kommst bitte mit. Thomas, ruf mich bitte über Handy an, sobald Frieser hier ist.«
    Das Büro lag im obersten Geschoss der Fabrikanlage. Sie brauchten fast zehn Minuten; und Zollangers Knie schmerzte erheblich, als sie endlich dort eintrafen.
    Naeve stand mit umwölktem Blick am Fenster, als sie das Büro betraten.
    »Herr Detective«, begann er, »Sie können sich nicht vorstellen, wie skandalisiert ich bin. Ich meine, good grief, es ist schockierend.«
    »Was ist das hier für ein Etablissement?«, fragte Zollanger, während Brenner den Personalausweis des Engländers prüfte und nichts Unregelmäßiges daran entdecken konnte.
    »Ein Club, Sir, ein ganz normaler Club.«
    »Für ein vornehmlich homosexuelles Publikum?«
    »Nein. Wir machen alles«, erwiderte Naeve. »Hetero, schwul, lesbisch, ganz egal.«
    »Und letzte Nacht. Was war da los?«
    »Gestern war Bad Santa. Also, das heißt auf Deutsch wohl Böser Nikolaus.«
    »Bad Santa«, wiederholte Zollanger.
    Udo Brenner gab Naeve seinen Personalausweis zurück.
    »Wie viele Nikoläuse waren letzte Nacht da?«
    Naeve zog die Augenbrauen hoch. »Es war ein durchschnittlicher Abend. Vielleicht knapp zweitausend.«
    Zollanger und Brenner schauten sich kurz an.
    »Zweitausend?« Brenner war skeptisch. »Sind Sie sicher?«
    »Ja. Die Zahl der verkauften Tickets habe ich hier im Computer. Wollen Sie sie haben?«
    »Ja. Wir wollen alles haben, was uns Aufschluss darüber gibt, wer gestern hier gewesen ist. Es war also recht voll?«
    »Ja, aber nicht übermäßig. Wir hatten auch schon Abende mit dreitausendfünfhundert Besuchern. Wir sind der größte Club Europas.«
    »Und Ihr Publikum?«, fragte jetzt Brenner. »Das sind vermutlich nicht alles Leute aus Berlin?«
    »Nein«, sagte Naeve und schüttelte amüsiert den Kopf. »Das würde sich nicht rechnen. Die Leute kommen von überallher. Siebzig Prozent EU . Zwanzig aus Resteuropa. Der Rest aus Übersee. USA . Japan. Australien. You name it.«
    »Fliegen hierher, um Nikolaus zu feiern?«, fragte Brenner ungläubig.
    Naeve blinzelte, als verstehe er die Frage gar nicht.
    »Sie wissen, was Sie da heute morgen gefunden haben?«, fragte Zollanger.
    »Ein totes Lamm, ja, entsetzlich.«
    Brenner wollte etwas hinzufügen, aber Zollanger hob rasch den Arm.
    »Das gehört also nicht zu den Dingen, die man hier üblicherweise findet?«
    »Wie bitte?«
    »Verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Naeve. Was wir bisher von diesem Club gesehen haben, entspricht nicht unbedingt dem, was

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