Torso
Dass dein Freund Eric sich wochenlang vor irgendwelchen Leuten unter anderem bei dir versteckt hat? Dass er Todesangst hatte, dass ihn jemand umbringen wollte? Dass er bis kurz vor seinem Tod ein fröhlicher und lebenslustiger Mensch war, und sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund in einem Waldstück erhängt, an einem Ort, wo man ohne ein Fahrzeug kaum hingelangen kann, nachts, ohne …«
Cemal hob abwehrend die Hand.
»Ich weiß, ich weiß. Das hast du mir ja alles schon erzählt. Und es stimmt ja, dass es merkwürdig aussieht. Merkwürdig für uns. Aber offenbar nicht für die Polizei. Elin, die bearbeiten jedes Jahr Hunderte solcher Fälle. Wenn es den geringsten Verdacht gäbe, dass Eric sich nicht das Leben genommen hat, dann hätte die Polizei das doch herausgefunden. Und dann hätten sie versucht …«
»… hat auch nur
ein
Polizist mit dir geredet, Cemal?«
»Nein.«
»Ach. Und das findest du nicht merkwürdig? Du warst einer der Letzten, die ihn lebend gesehen haben. Du hattest sogar eines seiner drei Handys, auf dem er bis eine Woche vor seinem Tod jede Menge Gespräche geführt hat. Warum interessiert sich die Polizei nicht dafür? Wo sind seine Ausweispapiere? Seine Brieftasche? Hat er das alles vernichtet, bevor er sich aufgehängt hat? Warum? Wozu?«
Cemal schaute irritiert vor sich auf den Tisch. Elins blasses Gesicht hatte sich ein wenig gerötet. Ihre Augen glänzten. Jetzt sah sie Eric ähnlich. Ja, im Grunde sah sie fast wie ein Mann aus mit ihren kurzen blonden Haaren. Wie ein sehr schöner Mann. Wie Eric.
»Komm«, sagte er und stand auf. »Ich habe ja alles besorgt. Schau.«
Er ging zu einer Tür an der Rückwand des Gastraumes, öffnete sie und schlug mehrmals mit der flachen Hand auf eine Stelle an der Wand, bis das Licht endlich anging. Elin saß noch immer unbeweglich auf ihrem Platz. Er winkte sie mehrmals zu sich. Schließlich erhob sie sich, stieg die beiden Stufen zu ihm hinauf und trat neben ihn in den Hausflur. Zwei große Plastiktaschen standen dort neben dem Treppenabsatz. Seilenden und Karabinerhaken schauten daraus hervor.
»Es ist alles da«, sagte er. »Fehlt nur die Leiter. Aber die bekomme ich morgen früh.«
»Super«, sagte Elin. »Danke, Cemal. Aber morgen wird es nichts. Nächste Woche.«
Elin kniete sich hin, holte eines der Seile heraus und fädelte es probehalber durch einen der Karabinerhaken des Klettergeschirrs, das unter dem Seil in der Tasche lag. Es ließ sich geschmeidig durch die Öse ziehen.
»Hast du am Montag Zeit?«, fragte sie.
Cemal schüttelte den Kopf. »Nein. Geht nicht. Wenn morgen früh ausfällt, geht erst wieder Dienstag.«
»Okay«, sagte sie. »Dann bleibt es doch bei morgen. Ich kann nicht ewig auf diesen Bullen warten. Du weißt, wo?«
»Ja. Schulzendorfer Straße. Am Waldparkplatz. Wann?«
»Um elf? Ist das in Ordnung?«
»Ja. Sicher. Soll ich dich abholen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, ihm jetzt auch noch zu erklären, warum sie grundsätzlich nicht Auto fuhr. Deshalb sagte sie nur: »Ich werde schon früher da sein. Ich warte auf dich.« Dann stopfte sie das Seil in die Tasche zurück.
»Willst du nicht doch etwas essen?«, fragte Cemal, als sie wieder in der Imbissstube waren. »Komm. Ich mach dir einen schönen Döner.«
Er meint es ja nur gut, dachte sie bei sich. Aber wie konnte er diesen aus zermanschten Drüsen und Knorpel zusammengebackenen, vor Fett triefenden Fleischbatzen nur ernsthaft als Essen bezeichnen? Sie griff in die Auslage und schnappte sich zwei rohe Möhren.
»Danke, Cemal«, sagte sie und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Bis morgen. Und denk an die Leiter.« Dann verließ sie den Laden.
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7
L eichenteile gehörten mittlerweile leider zum grausigen Alltag. Aber diese Kombination mit Tieren war verstörend. Zollanger spürte ein unbändiges Verlangen, diesen Einsatz abzubrechen, einen starken Widerwillen gegen all das, was in den nächsten Stunden und Tagen auf ihn zukommen würde, angefangen mit der neuerlichen Besichtigung dieser Scheußlichkeiten, sobald sie auf den Edelstahltischen der Gerichtsmedizin auseinandergenommen und in ihrer ganzen schauderhaften Rätselhaftigkeit durchleuchtet und erfasst waren. Er konnte das alles nicht mehr sehen. Es widerte ihn an. Knapp zwei Jahre lagen noch vor ihm. Und auf den letzten Metern, bevor er seinen letzten Bericht über irgendeine widerliche Gewalttat schrieb, sollte er sich nun auch noch mit so etwas befassen? Die
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