Torte mit Staebchen
und eine Lawine lostreten, solange man gar nicht wusste, ob’s überhaupt klappte. Nachdem Sanmao seine Aussagen gern durch chinesische Sprichwörter untermauerte, die er wörtlich ins Deutsche übertrug, hatte auch sie angefangen, ihre Sprache nach bildhaften Redewendungen und Sprichwörtern zu durchforsten. Die passten zwar nicht immer in die neue Umgebung, klangen aber umso lustiger: in Schanghai, wo es weit und breit weder Berge noch Schnee gab, eine Lawine lostreten!
Endlich, nach mehreren Tagen bangen Wartens,hörte sie eines Nachmittags Sanmaos Pfiff und stürzte ans Fenster. Er stand im Hof, hielt einen Pappkarton im Arm und winkte, dass sie runterkommen sollte.
»Mama, ich bin mal kurz unten bei Sanmao«, erklärte sie ihrer Mutter und kürzte etwaige Diskussionen dadurch ab, dass sie auf eine Erwiderung gar nicht erst wartete.
»Hast du sie?«, fragte sie atemlos, obwohl Sanmaos triumphierende Miene die Frage überflüssig machte.
»Ihn – es ist eine Er-Katze.«
»Ein Kater«, verbesserte Inge.
Vorsichtig lupfte er den Deckel des Kartons und ließ Inge hineinschauen. In einer Ecke zusammengekauert saß ein grau-schwarz getigertes Etwas und fauchte sie an. Als das Kätzchen wehrhaft das Kinn hob, entdeckte Inge dort einen winzigen weißen Fleck.
»Wo hast du ihn her?«
»Bei einem meiner Schulkameraden hat’s Nachwuchs gegeben. Er hat mir den hier gegen eine Tüte Keksbruch überlassen. Er ist der wildeste des ganzen Wurfs, niemand wollte ihn. Aber du wirst schon mit ihm fertig.«
Sollte Inge das als Kompliment auffassen? Langsam schob sie ihre Hand in den Karton und bekam – patsch! – von scharfen Krallen eins über den Handrücken. Erschrocken zog sie die Hand zurück, auf der sich blutige Striemen bildeten.
»Wer keine dicke Haut hat, soll sich nicht vom Tiger streicheln lassen«, kommentierte Sanmao spöttisch.
»Ein echtes Stück Raubtier«, imitierte Inge Sanmaos chinesisch eingefärbtes Deutsch. Doch als dasStück Raubtier gleich darauf ein jämmerliches Maunzen hören ließ, war Inges Herz gewonnen. Außerdem wollte sie Sanmaos Erwartungen als furchtlose Katzenmutter gerecht werden. »Wie sollen wir ihn nennen?«
»Wenn einem in China ein Tier zuläuft, egal ob Hund oder Katze, dann bringt es einem Glück ins Haus. Darum nennt man es oft Laifu – Komm Glück. Man darf es nicht abweisen, sonst verjagt man sein Glück.«
»Ha, das ist gut, das sag ich meinen Eltern.«
»Er ist dir ja praktisch zugelaufen, auch wenn ich ein bisschen nachgeholfen habe.« Damit drückte er Inge den Karton in den Arm.
Jetzt kam der schwierigste Teil der ganzen Aktion. Inge stieg mit der Schachtel die Treppe des Hinterhauses hoch. Sie würde auf den Überraschungseffekt setzen.
»Mama, schau mal, was ich hier habe!«, rief sie betont fröhlich und ließ die Mutter einen Blick in die Schachtel tun.
»Um Himmels willen, Inge, was willst du denn mit dieser Katze?«
»Die soll hier Mäuse fangen, dann brauchst du keine Angst mehr zu haben und kannst besser schlafen. Außerdem bringt sie uns Glück, deshalb heißt sie ›Laifu‹. Übrigens ist es ein Kater, also bekommt er keine Kinder«, listete Inge die Vorzüge des neuen Hausgenossen auf.
So leicht ließ sich die Mutter freilich nicht überzeugen. »Dafür verspritzt er überall seinen Urin, um sein Revier zu markieren.«
»Die Mäuse müssen ja merken, dass er da ist. Sonst wirkt’s nicht.«
»Außerdem haben solche Tiere Flöhe, und Flöhe übertragen Typhus.«
»Ich werde ihn waschen«, versprach Inge, war sich aber sicher, dass sie dabei den Kürzeren ziehen würde. Ihre blutige Hand hatte sie vorsichtshalber hinter dem Rücken verborgen. Jetzt galt es, im Rededuell mit der Mutter das letzte Wort zu behalten.
»Was wird dein Vater dazu sagen?«
Die Erwähnung des Vaters war ein gutes Zeichen; es bedeutete nämlich, dass Frau Finkelstein die Argumente ausgingen.
»Der hat doch schon in Brandenburg immer gesagt, dass in jedes Getreidelager eine Katze gehört. Die Mäuse werden immer wiederkommen, solange sie das Mehl nebenan riechen. Schließlich haben die vor uns hier gewohnt. Aber wenn sie Laifu wittern, verziehen sie sich. Vielleicht fängt er ja sogar Kakerlaken.«
Frau Finkelstein zögerte. Sie schien ein Übel gegen das andere abzuwägen. Am Ende siegte ihre Angst vor Mäusen über die Bedenken gegen den neuen Hausgenossen.
»Na gut, dann lass ihn draußen im Treppenhaus und im Speicher jagen. Aber er kommt mir nicht in
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