Torte mit Staebchen
ihm oder Frühlingserwachen Kontakt aufzunehmen, und das war jetzt schon über einen Monat her. Außerdem musste sie in Erfahrung bringen, was mit Max’ Vater geschehen war. Um Väter, das hatte Inge gelernt, musste man sich in Kriegszeiten besondere Sorgen machen.
Aber allein in einem solchen Lokal erscheinen, ging denn das? Was würde sie tun, wenn sie Max nicht gleich entdeckte? An allen Tischen nach ihm suchen und dann wieder gehen?
Jetzt stell dich nicht so an, ermahnte sie sich. Das ist auch nur ein Café wie jedes andere, schließlich bist du selbst in einem aufgewachsen. Ihr Entschluss stand fest.
Nach der ungeliebten Schule, wo Inge noch zum Mittagessen blieb, kam sie nach Hause und schleuderte den Ranzen aufs Bett.
»Muss noch mal weg.«
Die Mutter sah fragend hinter der Nähmaschine hervor; Inge ignorierte ihren Blick. Konnte man hier denn niemals unbeobachtet sein?
»Vielleicht triffst du deinen Vater, der wollte sich nach Arbeit umsehen.«
Ach du Schreck! Das war das Letzte, was Inge brauchte, den Vater am Nebentisch, während sie sich mit Max traf.
»Wo ist er denn hin?«
»Er wollte es bei den Cafés und Konditoreien in unserer Straße versuchen, im ›Delikat‹ oder im ›Europa‹,auch das ›Barcelona‹ käme in Frage. Allerdings sind das fast alles Österreicher, da ist es fraglich, ob die einen Piefke einstellen.« Die Chusan Road wurde wegen ihrer österreichischen Gastronomie auch »Little Vienna« genannt.
Inge atmete erleichtert auf. Das »Mascot« lag in Richtung Fluss, wenn sie auf der anderen Seite des Gefängnisses entlangginge, über die Baoding Road, würde sie dem Vater nicht begegnen.
Frau Finkelstein hatte längst aufgegeben, sich zu fragen, was ihre Tochter an den Nachmittagen so trieb. Heute allerdings wunderte sie sich, dass Inge den Faltenrock ihrer Schuluniform anbehielt und sich sogar die geblümte Bluse überzog, die, obgleich über der Brust schon etwas eng, noch immer passte. Abgesehen von den groben Holzpantinen, die in Ermangelung ordentlichen Schuhwerks hier jeder trug, sah sie richtig flott aus. Die Zöpfe hatte sie sich im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Was ihr kleines Mädchen wohl vorhatte?
Als Inge von der Lane auf die Straße hinaustrat, sah sie sich sicherheitshalber erst einmal um. Jetzt bloß nicht dem Vater in die Arme laufen. Statt nach links abzubiegen, ging sie rechts und schlug einen weiten Bogen um das Gefängnis. Es war zwar erst Juni, aber schon so heiß, dass ihre Bluse nach kurzer Wegstrecke Schwitzflecke bekam. Bisher hatte Inge dergleichen nie gestört, doch jetzt war sie sich der dunklen Ränder plötzlich peinlich bewusst. Als sie vor dem hohen Gebäude stand, das mit seinen vielen Verzierungen und bunten Glasfenstern eher einer Kirche als einer»Vergnuegungsstaette« glich, hätte sie der Mut beinahe verlassen. Das Problem war das Geld: Inge hatte keins, weder für die Zeche noch für das Rad. Max war ihre einzige Hoffnung, aber der war ja schon immer geschäftstüchtig gewesen.
Als sie aus dem dunklen Treppenhaus auf den Dachgarten hinaustrat, war sie von der Spätnachmittagssonne so geblendet, dass sie erst einmal stehen bleiben musste. Hier oben tat sich eine Welt auf, die in scharfem Kontrast zu den Straßen stand, durch die sie gekommen war. Die eng beieinanderstehenden Tische waren alle besetzt: Herren in weißem Hemd und Krawatte hatten wegen der Sommerhitze ihre Jacketts über die Stuhllehnen gehängt; Damen, die sich mit den begrenzten Mitteln ihrer verschlissenen Garderobe fein herausgeputzt hatten. Chinesen waren hier kaum zu Gast, auch die Kellner waren durchweg Langnasen, und aus dem großen Schalltrichter eines Grammophons rieselten Walzerklänge. Heute Abend, das entnahm Inge einem Plakat, würden hier die »Drei H« aufspielen, eine Tanzkapelle aus drei Musikern, deren Vornamen alle mit H anfingen. Wäre nicht gelegentlich der Ruf eines chinesischen Straßenhändlers heraufgedrungen, hätte man sich in Wien oder Berlin wähnen können.
Während Inge diese exotische Szene staunend in sich aufnahm, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
»Ich sitz da hinten auf meinem Stammplatz. Grüß dich, Inge. Schön, dass du gekommen bist.«
»Hallo, Max.« Sie ließ sich von ihm an einen Tisch in der Nähe der Brüstung führen, von wo man einenherrlichen Blick auf das glitzernde Band der Flussbiegung hatte. Fast ein bisschen wie damals, als sie gemeinsam an der Reling der »Conte Biancamano«
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