Torte mit Staebchen
Bezirk nur mit einem gültigen Passierschein verlassen, der genau vorschreibt, in welchem Zeitraum und auf welcher Strecke ich draußen unterwegs sein darf. Den muss man im Bridge House beantragen.«
»Und wie kommst du morgens in die Konditorei?«
»Ich fürchte, das können wir vergessen. Herr Fiedler würde mir natürlich einen Nachweis über meine Anstellung schreiben, aber die Japaner haben eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. In der Backstube fangen wir sehr früh an, das kann ich unmöglich schaffen.«
»Aber, Papa …« Der Satz blieb in der Luft hängen. Beschämt machte Inge sich klar, dass sie bisher nur an ihre eigene Bewegungsfreiheit gedacht hatte, nichtaber an den Vater und dessen Verdienstmöglichkeiten. Hilfe suchend blickte sie zu ihrer Mutter hinüber.
»Mach dir mal keine Sorgen, Entlein. Wir werden schon nicht verhungern. Ich hab ja meine Singer. Und da ist auch noch die Gundel, obwohl das Schlüsselgeld ihr den Bauch ganz schön ausgehöhlt hat. Jedenfalls bin ich froh, dass ich immer so streng gewesen bin mit euch beiden. Man weiß eben nie …«
»… was noch kommt«, ergänzten Vater und Tochter im Chor.
Im Gegensatz zum Vater brauchte Inge keinen Passierschein. Um Missverständnissen vorzubeugen, trug sie jetzt immer eine offizielle Abschrift des mütterlichen Passes bei sich, aus dem hervorging, dass sie kein staatenloser Flüchtling, sondern weiterhin deutsche Staatsbürgerin war. Doch auch ihr Radius war deutlich geschrumpft. Durch die Rationierungen von Elektrizität und Benzin – alles kriegswichtige Ressourcen – war der öffentliche Verkehr stark eingeschränkt. Straßenbahnen verkehrten nur noch selten, und Busse fuhren jetzt mit Holzkohlevergasern, sonderbare Aufsätze, die aussahen, als hätte man einen Badeofen ans Heck montiert. Angesichts ihres Monopols und der rapiden Geldentwertung hatten auch die Rikschakulis ihre Preise drastisch erhöht. Zum Glück war Inges Schule von der neuen Wohnung aus in fünf Gehminuten zu erreichen. Frau Finkelstein hatte ihre Sparpolitik noch weiter verschärft und würde künftig wohl kaum Geld für »sinnlose« Fahrten in die Bubbling Well Road lockermachen. Und zu Fuß waren Hin- und Rückweg zwischen Schulschluss und abendlicherAusgangssperre kaum zu schaffen. Aber Inge hatte schon eine Idee: Ein Rad musste her. Allerdings waren solche Fortbewegungsmittel derzeit besonders gefragt und daher absolut unerschwinglich.
Wenn die Finkelsteins um ihren Koffertisch saßen, vernahmen sie immer wieder seltsame Geräusche aus dem unteren Stockwerk. Die Familie Wang bestand aus drei Generationen. Lao Wang, der Patriarch und Vermieter, hatte offenbar die Angewohnheit, sich erst ausgiebig zu räuspern und den so aus den Tiefen seiner Bronchien geborgenen Schleim dann lautstark in einen Spucknapf zu entsorgen. Mit der Ehe seines Sohnes schien es nicht zum Besten zu stehen, denn das Ehepaar zankte laut und ausdauernd, während die zahlreiche Kinderschar sich abwechselnd um etwas stritt oder heulte.
»Damit werden wir wohl künftig leben müssen«, bemerkte Herr Finkelstein. »Manchmal kann es auch von Vorteil sein, wenn man eine Fremdsprache nicht versteht.«
Inge ihrerseits war überzeugt, dass sie als Obermieterin der Wangs ihr Repertoire an Schimpfwörtern noch würde erweitern können.
Als sie nach dem Essen mit einer Emailschüssel und dem gebrauchten Geschirr und Besteck zum einzigen Spülstein in den Durchgang hinunterstieg, um den Abwasch zu machen, lugte der Älteste des Wang-Nachwuchses neugierig durch den Spalt der Wohnungstür. Lauthals berichtete er seinen jüngeren Geschwistern ins Zimmer hinein: »
Yáng guĭzi xĭwǎn
le
!« Er war selbstverständlich davon ausgegangen, dassInge wie die meisten Emigranten nicht Chinesisch verstand, geschweige denn sprach.
»
Genau, der ausländische Teufel macht den Abwasch, und du könntest dir mal deine naseweise Rotznase schnäuzen.
«
Der Junge erstarrte, fing sich jedoch rasch wieder und legte den Zeigefinger ans Nasenloch. Daraus schoss eine präzise gezielte Rotzladung genau vor Inges Füße, bevor er die Tür leise schloss.
***
Inge erwachte in ihrem Erker, von dem aus sie die Gasse überblicken konnte. Laifu war irgendwann in der Nacht vom Dach heruntergekommen und hatte sich in ihre Armbeuge gekuschelt. Über so etwas regte Frau Finkelstein sich schon lange nicht mehr auf. Man hatte andere Sorgen.
Bei Tagesanbruch zog der Mann, der die Honigeimer leerte, unter
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