Torte mit Staebchen
Rad besorgt und ich mache Besorgungsfahrten für ihn.«
»Weil du rauskannst und er nicht.«
»Du hast’s erfasst.«
Trotz ihrer Wiedersehensfreude konnte Inge nicht umhin, Sanmao spüren zu lassen, dass sie mehr von ihm erwartet hatte. Doch dann rief Frühlingserwachen die beiden zum ofenfrischen Bienenstich, und Inges Schanghaier Welt war erst einmal wieder in Ordnung.
Land unter
September, 1943 – Jahr der Ziege
羊
Der Dachgarten war über den Sommer zu Inges Ausweichquartier geworden. Wenn sie es in der Enge des einzigen Familienzimmers nicht mehr aushielt, verzog sie sich nach oben, sogar zum Schlafen. In klaren Nächten schaffte sie ihr Feldbett hinauf und zündete darunter die unerlässlichen grünen Weihrauchspiralen an, deren beißender Qualm die Moskitos fernhielt. Auf dem Dach war es kühler, und vielleicht waren die Eltern ja auch froh, wenn sie mal allein sein konnten. Trotz Vorhang und vorsichtiger Zurückhaltung, war Inge längst klar, dass es Dinge gab, für die ein Ehepaar lieber allein sein wollte.
Auch ihr tägliches Kungfu-Training, zu dem Sanmao sie bei ihrem letzten Besuch nachdrücklich ermahnt hatte, absolvierte sie dort oben. Laifu, der den Dachgarten ebenfalls als sein Revier betrachtete, fand es lustig, wenn sie dort ihre sonderbaren Bocksprünge vollführte, und haschte begeistert nach ihren Fußknöcheln. Er schien das für ein Spiel zu halten, das sie eigens für ihn veranstaltete.
Wenn Inge den Blick von ihrem Ausguck über das Viertel wandern ließ, blieb er immer wieder an dem kühn geschwungenen, zweifachen Dach eines Tempelshängen, der Richtung Süden über den Giebeln der Reihenhäuser aufragte – der einzig erfreuliche Anblick im tristen Häusermeer Hongkous. Er lag gleich um die Ecke, in der Kunming Road. Inge war schon oft an dem großen Holztor vorbeigekommen, das ihre Neugier umso mehr erregte, als es stets verschlossen war. Dort wohnten Nonnen, die curryfarbene Kutten, weiße Strümpfe und Stoffschuhe trugen. Ihre Köpfe waren kahl rasiert, aber offenbar aus freien Stücken, jedenfalls wirkten sie fröhlich und lachten bei jeder Gelegenheit. Man hätte die dunklen Haarstoppeln auf ihren Schädeln von Weitem auch für graue Badekappen halten können. Inge war ihnen schon mehrfach auf dem Markt begegnet oder hatte sie durch das kleine Fensterchen in der hohen gelben Umfriedungsmauer mit Besuchern sprechen sehen. Der Tempel war sehr alt und hieß Hsiahai Miao 下 海 庙 . Im Gegensatz zu Schanghai 上 海 , das seinem Namen nach »über dem Meer« lag, war dies ein »Tempel unter dem Meer«. Er war von Fischern gegründet und später zum Kloster erweitert worden.
Inge erinnerte sich noch genau daran, wie es ihr zum ersten Mal gelungen war, in diesen geheimnisvollen Bezirk vorzudringen. Ausnahmsweise stand einer der schweren Türflügel offen, und Inge hatte nicht widerstehen können, einen Blick hineinzuwerfen. In dem weitläufigen Vorhof war eine Nonne gerade dabei, die großen Steinplatten mit einem Bambusbesen zu fegen. Hinter einer Freitreppe erhob sich das prächtig verzierte Tempelgebäude, in dessen Innerem sie brennende Kerzen und eine gewaltige goldschimmerndeGestalt erahnen konnte. Als Inge an der Wand eines Nebengebäudes weitere Besen entdeckte, hatte sie sofort ihre Chance gewittert.
»
Wǒ bāngzhù nĭ, hǎo bù hǎo?
« –
Kann ich dir helfen?
«Mittlerweile kam ihr das Chinesische ohne Überlegen und meist auch tongenau über die Lippen; keine peinlichen Missverständnisse mehr. Auch die Nonne hatte sie sofort verstanden und kein langes Aufhebens gemacht, sondern nur wortlos genickt und auf die Besen gedeutet.
Nach dem Gedrängel und Geschrei auf Hongkous Straßen, nach der überfüllten, nach Müll stinkenden Lane und der Enge in den heimischen vier Wänden war Inge diese großzügige, feierlich stille Anlage wie ein Paradies erschienen. Der mit den Kriegsjahren immer härter gewordene Überlebenskampf, den Chinesen wie auch Langnasen hier auf engstem Raum ausfochten, blieb hinter der hohen Mauer zurück; nicht einmal die Rufe der Händler und der täglich zahlreicher werdenden Bettler drangen herein. Für Inge war die friedvolle Ruhe wie ein warmes Bad – auch das ein lang entbehrtes Vergnügen –, in das sie genüsslich eintauchte. Die Nonne hatte ihr freundlich zugelächelt und schweigend weitergekehrt. Ausnahmsweise hielt auch Inge ihren Schnatterschnabel, sie konzentrierte sich ganz auf das Wischeln ihres Reisigbesens.
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