Torte mit Staebchen
aus ihrem Erkerfenster nicht mal das gegenüberliegende Haus erkennen.
»Wie Papa wohl nach Hause kommt?«, überlegte Inge laut. Der Vater hatte schon in aller Frühe seinen Dienst in der Backstube des »Delikat« angetreten, dawar alles noch ziemlich ruhig gewesen, jetzt saß er fest.
»Wenn er schlau ist, bleibt er dort, bis das Schlimmste vorbei ist.«
Der irgendwann unaufschiebbare Gang zum Honigeimer war mittlerweile zur Mutprobe geworden. Dass man dabei völlig durchnässt wurde, war noch das kleinere Übel. Vor allem galt es, sich gut festzuhalten, um nicht vom Dach geweht zu werden. Der Bretterverschlag war längst zusammengefallen wie ein Kartenhaus, doch für Scham war keine Zeit. Jeder wollte nur schnell wieder ein festes Dach über dem Kopf haben. Kurz bevor es richtig dunkel wurde, kam auch der Vater nach Hause.
»Ich glaube zwar kaum, dass die Japaner heute die Einhaltung der nächtlichen Ausgangssperre überprüfen«, sagte er, als er nass und zerzaust in der Tür stand, »aber ich wollte es nicht drauf ankommen lassen.«
Inge seufzte erleichtert auf. Seit sie erfahren hatte, was mit Max’ Vater geschehen war, fürchtete sie die japanischen Soldaten noch mehr.
Abends saß die Familie samt Kater bei Kerzenschein zusammen; der Strom war ausgefallen. Hätte die Wachskerze sich nicht unter der spätsommerlichen Hitze gekrümmt, dann hätte man es für eine trauliche Adventsszene halten können. Aber hier war Hongkou, hier war Schanghai, hier war China, hier war Krieg.
»Einer der Kollegen im ›Delikat‹ hat ein Kurzwellenradio«, berichtete der Vater.
Ganz schön mutig, dachte Inge. Seit der Machtergreifungder Japaner war das strengstens verboten, und die Einhaltung dieses Verbots wurde auch in Privathäusern durch brutale Razzien der Militärpolizei kontrolliert. Die Bewohner des besetzten Schanghai sollten durch lokale Rundfunksender, Presse und Wochenschauen ausschließlich über die Siege der Achsenmächte informiert werden.
»Er hat gehört, dass die Alliierten in Sizilien gelandet sind. Italien hat kapituliert und einen Waffenstillstand geschlossen. Damit ist es aus der Achse ausgeschert«, erzählte Herr Finkelstein weiter. »Und stellt euch vor, daraufhin soll die italienische Besatzung der ›Conte Verde‹ ihr Schiff versenkt haben, damit es von den Japanern nicht zu Kriegszwecken requiriert wird. Jetzt hat es Schlagseite und liegt mitten in der Fahrrinne.«
»Du meinst das Schwesterschiff von unserem ›Grafen‹?«, fragte Inge aufgeregt dazwischen. Dieser Dampfer aus der Flotte des Lloyd Triestino saß seit dem Angriff auf Pearl Harbor im Huangpu fest und war zum festen Bestandteil des Schanghaier Stadtbilds geworden. »Und was ist mit der Besatzung passiert?« Inge dachte natürlich sofort an Paolo.
»Die ist von den Japanern wegen Sabotage verhaftet worden.«
»Auweia, hoffentlich ist Paolo auf der ›Conte Biancamano‹ geblieben.«
Frau Finkelsteins Gedanken gingen in eine ganz andere Richtung: »Dann haben wir vielleicht doch noch Hoffnung, dass dieser Wahnsinn bald ein Ende hat«, und nach einer nachdenklichen Pause fügte siein Richtung Inge hinzu: »Aber jetzt ab ins Bett. Wir müssen sparsam mit den Kerzen umgehen …«
»… wer weiß, was noch kommt«, beendeten Vater und Tochter ihren Satz.
Als Inge auf ihrem Feldbett im Erkerfenster lag, ließ der Sturm sie nicht gleich einschlafen. Von welchem »Wahnsinn« hatte die Mutter gesprochen? Es gab derzeit so viel davon. Meinte sie jenen fernen Krieg, den Hitler in Europa angezettelt hatte und vor dem sie sich hier sicher wähnten? Den Krieg vor der Haustür, den die Japaner in Asien gegen den Rest der Welt führten? Oder war das womöglich ein und derselbe Krieg, der sie irgendwann einholen würde? Vielleicht meinte sie aber auch ihr Leben in dieser Stadt, in der sich Frau Finkelstein nach wie vor fremd und deplatziert fühlte.
Für Inge dagegen fühlte sich dieses Leben trotz seiner Entbehrungen inzwischen völlig vertraut und normal an. Die Begegnung mit Max war ein Glücksfall gewesen. Das Rad und die damit verbundenen Aufträge verschafften ihr Bewegungsfreiheit und Verdienstmöglichkeiten, vor allem aber war der Kontakt zu ihrer »chinesischen Familie« wiederhergestellt. Inge liebte es, durch die Stadt zu gondeln – im Gegensatz zu den Inhabern von Passierscheinen war ihr ja keine genaue Route vorgeschrieben, an die sie sich halten musste. Begierig nahm sie all die farbigen, fremdartigen Szenen,
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