Tortengraeber
Zigarette an und ging davon. Die Polizisten sahen ihm nach wie dem letzten Kaiser, stiegen dann wieder in den Wagen. Man fuhr über Neu-Lerchenfeld, um dann auch in südöstlicher Richtung die Möglichkeiten einer zeitraubenden Anfahrt auszureizen. Endlich hielten sie, eigentlich mitten in Wien, dennoch in einer gottverlassenen Gegend, hinter dem Arsenal, zwischen reservierten Parkplätzen der Post und einer von trostlosen Wohnbauten flankierten Kirche.
Gretel strich den linken Haarteil hinter ihr Ohr, daß es knisterte, wandte sich halb zu Vavra um und befahl ihm, den Wagen zu verlassen. Vavra sah zur Kirche hinüber, vor deren Stufen zwei ältere Damen die Köpfe zusammensteckten, was anmutete, als würden sich ihre gefrorenen Körper gegenseitig am Fallen hindern. Ansonsten war kein Mensch zu sehen. Vavra runzelte die Stirn und fragte, ob er wirklich hier aussteigen solle. Als Gretel nickte – nun flehend, wie ihm schien –, öffnete er die Tür und trat hinaus in die Kälte.
Er machte einige Schritte auf das Gotteshaus zu, das im Nebel den plattgesichtigen Charakter einer Bühnendekoration besaß. Die beiden Frauen lösten ihre Köpfe voneinander, starrten zu ihm hinüber, flüchteten ins Innere. Hinter Vavra schlug die Wagentür zu. Als er sich über seine Schulter hinweg umsah, wurde der Polizeiwagen gestartet, und Hänsel und Gretel fuhren los. Vavra schlug, wie Millionen Gestrandeter vor ihm, den Mantelkragen hoch. Er verstand nicht, was das alles bedeutete. Aber er war auch nicht überrascht. Wie hatte sein Anwalt gesagt? Er wäre ja nicht der erste Verbrecher, der frei herumliefe.
Ohne einen Groschen in der Tasche machte er sich auf den Weg. Unterließ es, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, marschierte entlang des sogenannten Gürtels, einer vom Verkehr eingesargten Straße. Die Prognosen bestätigend, begann es zu schneien. Vom Sturm geschlagen, wankte Vavra in die Arbeitergasse, in deren ungefährer Mitte seine Adresse lag.
Das Haustor stand offen. Er ging hinauf in den zweiten Stock. Die Tür die in seine Wohnung führte, war verschlossen. Natürlich war sie das. Ordentliche Leute ließen nichts unverschlossen. Und ordentlich schien auch jener »Mag. Holt«, dessen auf einer dicken Glasplatte eingravierter und von schlanken Lichtröhren erhellter Name darauf verwies, daß nicht nur ein neuer Mensch, sondern auch eine neue Zeit in diese Räumlichkeiten eingezogen war. Die Klingel war verschwunden. Und wenn es eine neue gab, so lag sie verschämt im verborgenen. Weshalb Vavra mit der Handfläche gegen das jüngst polierte Holz schlug. Doch die Tür, die sich öffnete, war die in seinem Rücken gelegene. Vavras langjährige Nachbarin, Frau Liepold, stand im Rahmen, ihr Gesicht mit Schminke fragmentarisch abgedeckt. Unter dem Kimono trug sie einen Trainingsanzug. Sie balancierte geschickt auf ihren hochhackigen Sandalen. Vavra hatte in all den Jahren – von der Unbedingtheit innerparteilicher Höflichkeiten abgesehen – kaum ein Wort mit dieser Frau gewechselt, die er als ordinäre Erscheinung empfand.
»Der Holt ist nicht zu Hause«, sagte sie mit ihrer tiefen, vom Alkohol versengten Stimme, »ein eingebildeter Mensch, macht nicht Buh und nicht Bäh. Der paßt nicht ins Haus. Wirklich schade, daß Sie ausgezogen sind, Herr Vavra. Na ja, nach einem solchen Überfall. Das versteh’ ich schon. Da liegt man im Bett. Und dann so was. – Haben Sie was vergessen?«
»Also … nicht wirklich.«
»Wollen S’ reinkommen? Einen Kaffee vielleicht?«
Was nahm sich dieses Frauenzimmer eigentlich heraus? So, als existierten irgendwelche Vertraulichkeiten zwischen ihnen. Als hätte ausgerechnet er in dieses Haus so gut hineingepaßt. Vavra empfand ihr Angebot, auch wenn es sich wirklich bloß auf die Tasse Kaffee bezog, als unverschämt. Andererseits bot sich eine Möglichkeit, mehr zu erfahren über das, was als »Überfall« bezeichnet wurde. Und ein solcher war es ja gewesen, ein Überfall auf seine Existenz.
Er nickte, folgte Liepold in den Vorraum, wo sie seinen schweren Mantel wie einen Blumenstrauß entgegennahm. Sie führte ihn in ein Zimmer von beiläufiger Unordnung und stilbildender Geschmacklosigkeit. Kissen mit aufkopierten Fotos, sämtliche Frau Liepold darstellend, eine Kerze aus Lourdes, dick wie ein Männerhals, erotische Anspielungen in Form von Bierkrügen und Vasen. Im massiven Bücherschrank befanden sich Bertelsmanns Universallexikon und andere bekannte Staubfänger,
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