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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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leerstehenden Räume nicht anzumieten, aber dennoch über einen Schlüssel zu verfügen. Was keine Kunst war. Trotz sicherheitstechnischer Aufrüstung besaß so gut wie jeder in dieser Stadt einen Schlüsselbund, mit dem er die Wohnungen von halb Wien hätte öffnen können.
    Als Cerny das Haus betrat, an dessen Eingang gerade eine neue Gegensprechanlage installiert wurde, stellte sich ihm der türkisch-österreichische Hausmeister, der nur noch durch seinen dichten schwarzen Schnurrbart an das österreichische Bild von einem Türken erinnerte, mit einem Drillbohrer und mit Entschlossenheit entgegen. Offensichtlich waren die Zeiten vorbei, da man in diesem Haus mit Leichtigkeit Entführungsopfer unterbringen konnte. Cerny kramte bedächtig in seiner Tasche, zog eine Dienstmarke heraus und hielt sie dem Mann so dicht vor die Nase, als erfolge die Identifizierung über den Geruch. Gleichzeitig schob er sich die Führung seines Meßgerätes ins Ohr, was sein Gegenüber weit mehr zu beeindrucken schien als die Polizeimarke, über deren Rand hinweg er gebannt den Vorgang beobachtete.
    Der Hausmeister senkte sein Werkzeug und wies Cerny den Weg durch den Flur, wo die gestuckte Pracht vor sich hin bröckelte. Sie traten hinaus auf den Hinterhof. Aus dem rußigen Schnee ragte ein Bettgestell. An einem Ende hockten zwei Kinder und bedienten ihre toastscheibenartigen elektronischen Spiele. Die abgestellten Räder wirkten wie der eingefärbte Teil in einem Schwarzweißfilm.
    »Nicht sehr hübsch hier«, bemerkte Cerny.
    Der Hausmeister zuckte die Schultern und meinte, daß es nirgends hübsch sei, auch nicht in Florida. Er kenne Florida, sagte er verächtlich, wie man sagt, ich kenne Hannover, und öffnete die Tür zum Hinterhaus. Über einen engen Gang stiegen sie hinunter zu der Tür, an der noch die welken Klebebänder der Polizei hingen. In der Wohnung war ein Trupp von Arbeitern mit dem Streichen der Wände beschäftigt. Heizkanonen und Radioapparate dröhnten. Scheinwerferlicht wie in einem Fotostudio. Eigentlich war das keine Wohnung, sondern eine Werkstätte, ein Magazin. Knapp unterhalb der Decke befanden sich die Fenster, so schmal, daß gerade noch eine Katze hindurchpaßte, aber kaum Licht. Im hintersten Teil lag der etwa vier Quadratmeter große Raum, in dem man die Leiche gefunden hatte. Er war in keiner Weise präpariert worden. Das halbe Haus stand leer und würde es bald völlig sein, um einer Renovierung und einer neuen Schicht von Mietern nicht im Wege zu stehen. Und wenn Steinbeck recht hatte, so war das Mädchen ohnehin kaum in der Lage gewesen, sich durch lautes Geschrei und Schläge an die Wand bemerkbar zu machen. Zudem – in diesem wie in jedem Haus hatten die Leute ihre eigenen Sorgen. Irgendein fremdes Sterben ging da unter.
    Cerny dankte dem Hausmeister, der sich aber erst entfernte, nachdem der Polizist ihm einen Obolus in Form eines Hundert-Schilling-Scheins zugesteckt hatte. Ohne den Lichteinfall zu nutzen und sich den Raum anzusehen, trat Cerny ein, schloß hinter sich die Tür und verharrte in der völligen Dunkelheit. Keineswegs, um die Gefühle des Mädchens nachzuempfinden. Wie auch, mit seinen neunundachtzig Kilo und einer, trotz eingebildeter Wärmestauung, durchaus erfreulichen Biographie. Nein, vielmehr war es so, daß er bei Licht nichts aufspüren würde, was die anderen nicht schon entdeckt hatten, und das war kaum der Rede wert.
    Was er zuerst konstatierte, war die beträchtliche Kälte, die vom Boden her sich mit festem Griff an ihm hinaufzog. Cerny drehte sich langsam um die eigene Achse, mehrmals, blieb dann wie ein Glücksrad stehen. Er spürte die Stelle, an der das Mädchen gelegen hatte. Er spürte die Abwesenheit ihres Körpers, wie man die Einbuchtung in einem jüngst verlassenen Bett feststellt. Sicher war da kein letzter Gedanke, der wie ein Vermächtnis in dieser Ecke stehengeblieben war. Hätte Cerny es definieren müssen, hätte er gesagt: Stillstand. Er hatte den Stillstand im Vergleich zur eigenen Bewegung gespürt. Nicht Stillstand des Herzens, da lag ja kein Herz mehr, sondern … er hätte gesagt: eingefrorene Wärme.
    Er brauchte aber nichts zu sagen. Er spürte es eben. Was erstaunlich war, aber nicht unbedingt weiterhalf. Weshalb er einen Schritt auf die Ecke zumachte, sich niederkniete und versuchte, ihre Stellung, die Stellung der Toten, einzunehmen, nicht, indem er das auf den Fotos Gesehene kopierte, sondern so, als würde er sich in eine vorgegebene Form

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