Tortengraeber
unfreundlich, nur so, als hätte sie eben auch noch anderes zu tun, als Kriminalbeamte zu unterhalten. Aber er hatte den wunden Punkt erkannt. Sarahs Anorexie. Er war sich jetzt sicher, daß Wiese konsultiert worden war, in aller Heimlichkeit. Steinbeck mochte recht haben, daß für eine Perfektionistin wie Birgitta Hafner der Umstand einer psychisch kranken, zur eigenen Unverwundbarkeit diametral entgegengesetzten Tochter ein kaum zu akzeptierender gewesen war. Eine Tochter, die sich sukzessive aus dem Leben zurückgenommen hatte wie aus einem Gesellschaftsspiel, das sie als dumm und bösartig erkannt hatte, und somit auch die am Spiel festhaltenden Personen, vorrangig die Spielleiterin.
Cerny stellte sich vor, wie das Mädchen sich durch dieses Haus bewegt hatte, hohlwangig, durchscheinend, abwesend, ohne jede Eile, mehr schon eine Tote, eine Tote, die noch fror, in dicke Pullover gepackt, die den Skandal ihres Körpers vor der Welt verbargen. Der Haarreif wie eine Zange, die den Kopf aufrecht hielt. Lächelte sie, so lächelte sie an einem vorbei, als stünde hinter jedem Menschen sein sympathischer Schatten. Manchmal trat sie aus der Müdigkeit, war angespannt, konzentriert, betrachtete einen Fleck an der Wand, oft eine halbe Stunde lang, hob Dinge auf, ein Katzenhaar, eine tote Fliege, ein Stück Schlangenhaut, manchmal auch eine Brotkrume, die sie in den Mund steckte, aber nicht schluckte, sondern unter die Zunge klemmte, wo sie sich wie Zucker auflöste, eine letzte Mahlzeit, um nicht zu vergessen, daß es auch hätte schmecken können.
Von ihrer Umgebung wurde Sarahs Verweigerung wohl als Vorwurf empfunden, ein Vorwurf, der sich so schwer entkräften ließ, weil er eben in Gestalt einer ganzen Person auftrat, in aller Stille, unaufdringlich, dennoch überdeutlich. Dabei hatte Sarah vermutlich aufgehört, sich an ihrer Familie zu reiben, war aus den kriegerischen Handlungen ausgetreten, ließ sich nicht mehr kaufen, auch nicht, um – wenn sich schon nicht anzupassen – dann doch wenigstens zu rebellieren. Mit der Zeit verlor sie sogar das Gefühl der Verachtung. Und verlor ihren Hunger, wie man eine Bahnkarte verliert und sich solcherart eine ungeliebte Reise erspart.
So in etwa dachte sich Cerny das, während er mit Resele zurück zum Wagen ging. Daß Magersucht aus einem Schlankheitswahn resultierte, wie oft behauptet, konnte er sich nicht vorstellen. Er selbst war mit seinem massiven Körper durchaus zufrieden. Obzwar: Während seiner Jugend hatte er unter seinem geringen Wuchs gelitten. Aber auch wenn das möglich gewesen wäre, er hätte sich nicht strecken lassen.
Else Resele sah die Sache ganz anders. Je schlanker diese jungen Frauen wären, desto fetter würden sie sich fühlen. Ihre Art zu hungern sei so, als würden sie sich ganze Teile vom Körper schneiden. Nur indem sie abnahmen, unaufhörlich, fühlten sie sich gefeit vor dem Horror der Korpulenz.
»Man kann aber nicht immer nur abnehmen«, war Elses klare Schlußfolgerung.
Die beiden verließen das Grundstück und parkten in einer Seitengasse, so, daß sie auf das Tor sehen konnten. Cerny wollte auf Rad warten, von dem er sich erhoffte, er sei so eine Art Schlüssel.
»Kennen Sie seinen Wagen?« fragte Else.
»Man sollte den Herrn an seinem Fahrstil erkennen.«
Ein Feuilletonist, der Rad als eine Kultfigur jenseits des Begreifbaren bezeichnet hatte, behauptete, der Mann wäre gar nicht so gemütlich. Zumindest als Automobilist sei er der kämpferischen Art seiner frühen Jahre treu geblieben, sein Wagen gleichbedeutend mit der Metallweste des Degenfechters.
Resele wollte wissen, weshalb ausgerechnet Rad so viel Aufmerksamkeit verdiene.
»Irgend jemanden müssen wir ja verfolgen«, erklärte Cerny.
Sie lachte, stieß ihn kumpelhaft an. Dabei berührte sie die Jackentasche, in der sich die Figur befand, die Cerny aus Wieses Praxis mitgenommen hatte. Cerny aber brachte die topographische Anatomie seiner Natojacke durcheinander und war überzeugt, daß an dieser Stelle sein Thermomat lagerte, der jedoch in Wirklichkeit auf der anderen Seite untergebracht war. Er vermutete, Else Resele habe mit voller Absicht über die Ausbuchtung gestrichen, um doch noch hinter sein Geheimnis zu kommen. Was nahm sich diese Frau bloß heraus, überlegte er. Während sie dagegen dachte, es ausgerechnet mit einem Mann zu tun zu haben, der die Berührungen anderer nicht ertrug.
Beide zogen sich ins Warten zurück. Cerny kam so weit zur Ruhe, daß er sich
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