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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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über die herausgebrochene Tür und traten durch das Wurmloch von einem Gang hinein in den Atelierraum.
    Der violett schimmernde Ledermantel lag über einem Sockel. Gähnmaul schien vergnügt. Auch jetzt erinnerte er an einen Sportschützen, wie er dastand, ein schräg in den Boden gerammter Wegweiser, Kopf und Körper ein wenig nach hinten geneigt, die linke Hand in der Tasche, die Spitze des rechten Fußes nach innen gedreht, die waffenführende Hand locker gestreckt – der Mann gleichzeitig gelassen und konzentriert. »Da bist du ja endlich«, sagte er zu Birgitta Hafner, »und wer ist das Mitbringsel?«
    »Vavra. Der Mann vom Telefon«, stellte sich Vavra selbst vor, »und Zeuge der beiden bezaubernden Kapitalverbrechen, die Sie heute begangen haben.«
    »Zeuge? Na gut, irgendwie gehören Sie auch dazu. Als Mann vom Telefon, meine ich.«
    Gähnmaul machte Vavra mit Cerny und Resele bekannt. Hafner war den beiden ja bereits begegnet. Man hätte meinen können, einer beliebigen Abendgesellschaft beizuwohnen, wäre da nicht die Waffe gewesen, die sich wie ein Taktstock zu den verhaltenen Begrüßungen bewegte. Und hätte, nicht zu vergessen, Eduard Rad noch unter den Lebenden geweilt. So jedoch saß er auf dem Sofa, stumm, in die Ewigkeit hineingähnend, und vermittelte den Eindruck einer ungehobelten Person, deren Zustand beschämend war.
    »Also bitte die Herrschaften, setzt euch«, sagte Gähnmaul und zeigte mit seiner Waffe auf den Toten. »Da ist noch Platz genug. Das ist ein guter Platz.«
    Cerny und Vavra teilten sich die Aufgabe, die Flanken des nun endgültig zur Legende erstarrten Fechtmeisters abzudecken. Die Damen wollten sich auf den Sitzlehnen plazieren. Doch Gähnmaul befahl ihnen, sich neben die Männer zu setzen, wofür eigentlich kaum Raum war. Schultern und Arme wurden nach vorn gerichtet, Hände umfaßten Kniegelenke. Es sah aus, als gruppiere man sich zu einem letzten Foto. Cerny sah hinüber zu Vavra. Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment war ihnen nicht nur gemein, daß sie gegen denselben leblosen Körper gepreßt wurden. Was Vavra und Cerny wirklich verband, war der Umstand, daß sie beide rapide gealtert, tatsächlich von einem Augenblick zum anderen zu Greisen mutiert waren, ebenso die beiden Damen, nicht aber die Leiche, die jetzt den Eindruck des Lebendigen, Gesunden, den Eindruck eines großen Kindes vermittelte, das sich – eine unglaubwürdige, grausige Grimasse vorspiegelnd – bloß totstellte. Auch der Bildhauer hatte sich nicht verändert, vielmehr glichen nun alle ihm. Jeder der vier konnte es an den eigenen Händen erkennen, die faltig, mit dunklen Flecken gesprenkelt, die Finger krumm, arachnoid, zittrige Knie umklammerten: Nicht nur die anderen, auch man selbst war vergreist. Doch das Erstaunen hielt sich in Grenzen. Es war wie in einem Traum, wo zwar unnatürliche Veränderungen konstatiert, aber doch hingenommen werden, sehr bald wieder vergessen sind, Normalität. Gleich der Eröffnung, man leide unter einer gewissen hormonalen Störung, die einen aber nicht umbringen würde. Die nicht. Weshalb sich die vier wieder auf den Bildhauer konzentrierten, welcher sich hingesetzt und die Waffe auf den Tisch gelegt hatte, um nun in aller Ruhe jene Pfeife zu stopfen, die Eduard Rad nicht mehr stopfen konnte. Ebendiesen Rad stieß Cerny mit dem Ellenbogen wie einen alten Kumpel an und wollte von Gähnmaul wissen, warum der Mann hatte sterben müssen.
    »Er hat sich schuldig gemacht. Wie auch Wiese, wie auch Hufeland. Wie ich selbst. Und vor allem wie unsere verehrte Frau Hafner, dieses Miststück von einer Mutter. Das Kind aus der Taubenhofgasse war nicht Sarah.«
    »Was für ein Unsinn«, sagte Birgitta Hafner.
    Gähnmaul ließ sich aber nicht beirren und erklärte, Sarah sei bereits einige Wochen vor der fingierten Entführung gestorben. Faktisch gesehen an ihrer Nahrungsverweigerung und einer daraus resultierenden unregelmäßigen Herztätigkeit, in Wirklichkeit an einer durchaus begründeten Mutterverweigerung und daraus resultierenden radikalen Abnabelung – einer nur mittels des Todes vollziehbaren Trennung.
    Von Anfang an sei Birgitta Hafner um eine Skandalvermeidung bemüht gewesen. Als der Gewichtsverlust ihrer Tochter merklich zu werden drohte, habe sie das Mädchen aus der Schule genommen, unter dem Vorwand, es seien Attentatsdrohungen gegen die Familie eingegangen. So gesehen war schon damals ein solider Grundstein zur späteren Vortäuschung einer Entführung

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