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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Weihnachten war längst vorbei, und eine von den vielen höhnischen inneren Stimmen Vavras prognostizierte, daß es ein nächstes Weihnachten für ihn nicht geben würde. Die Gosse würde ihn verschlucken. Soll sie ruhig, sagte er sich. Ein, zwei Stunden vergingen. Wieder sah er die alpine Schönheit im weißen Skianzug. Manche Leute waren eben in Bewegung. Der Natojackenträger neben ihr war nur noch ein getarnter Schritt in der Dunkelheit. Dazu ein zweiter Mann, der umständlich das Tor aufschloß.
    Minuten später erweckte eine andere Frau seine Aufmerksamkeit. Ein Umstand, der ihm weh tat – dieser Überfluß. Sie betrat das Lokal. Vavra erkannte sie, auch wenn er ihr nie persönlich begegnet war. Er erkannte sie wie den Saftfleck auf dem Tischtuch. Damals, im Wohnzimmer Liepolds, hatte er in der Zeitung ihr Bild gesehen. Darauf hatte sie eine Sonnenbrille getragen. Eine solche trug sie auch jetzt. Was trotz Jahreszeit und fortgeschrittener Stunde nicht weiter auffiel. Sie entsprach diesem unterkühlten Typus, dem man in jeder Situation eine Sonnenbrille zugestand, weil nicht modische Gründe den Ausschlag gaben, sondern quasi hygienische – ein Atemschutz für die Augen. Sie war die Art Frau, die immer ein wenig nach eleganter Witwe aussah, welche soeben ein Imperium übernommen hatte. Sie war die Art Frau, von der behauptet wurde, sie kastriere Manager, auch wenn sie bloß die Pfründewirtschaft behob.
    Sie setzte sich, blickte auf die Uhr. Bestellte, ohne den Kellner anzusehen. Sie saß sehr aufrecht. Wie solche Frauen eben sitzen, dachte Vavra, als hätten sie einen Panzer unter der Bluse. Er überlegte. Vielleicht war es Birgitta Hafner selbst gewesen, die die Entführung initiiert hatte. War so etwas möglich? Die eigene Tochter? Daß Männer ihre verhaßten Frauen entführen ließen und umgekehrt, Söhne und Töchter ihre Brüder oder Schwestern, Schwiegersöhne ihre Schwiegerväter usw., war nichts Neues – aber das eigene halbwüchsige Kind? Er stand auf, setzte sich an ihren Tisch. Der Kellner kam angerannt, forderte ihn auf, die Dame nicht weiter zu belästigen. Vavra sagte »Taubenhofgasse«, und Frau Hafner gab dem Kellner zu verstehen, daß er ihr nicht das Leben zu retten brauche und sich entfernen dürfe.
    Sie stützte ihren seitlich geneigten Kopf auf den gestreckten Zeigefinger auf, ohne ihre gerade Haltung aufzugeben, und fragte: »Und?«
    Vavra machte keine großen Umstände, erzählte seine Geschichte, schilderte, wie ein beschrifteter Zwanzig-Schilling-Schein ihn dazu verführt hatte, eine ihm unbekannte Telefonnummer zu wählen. Er verschwieg seinen wahren Antrieb, erklärte seine Handlung als unmotiviert. Wenn der Abend lang sei, komme man eben hin und wieder auf solch unsinnige Ideen. Wie habe er ahnen können, in derartige Turbulenzen zu geraten? Er beschrieb seine Verhaftung, die Verhöre, die Unzufriedenheit der Beamten und wie man ihn schließlich entlassen, geradezu ausgesetzt hatte, wie es ihm später gelungen war, den vermeintlichen Anwalt Grisebach aufzustöbern, der sich als der Psychoanalytiker Joachim Wiese entpuppt und eine unglaubwürdige Version der Geschehnisse geliefert hatte. Und kaum hatte er mit Grisebach/Wiese über einen Bezugspunkt verfügt, war selbiger mit einem tödlichen Schnitt aus dem Geschehen genommen worden. Also hatte er sich an Wieses Henker angehängt, um auch noch dessen Steigerung vom Mörder zum Doppelmörder miterleben zu dürfen, und war ihm bis hierher in die Stumpergasse gefolgt.
    »Die Stumpergasse, das scheint mir der Ort des letzten Aktes zu sein«, weissagte Vavra.
    »Gehen Sie nach Hause«, riet ihm Frau Hafner.
    »Wohin, bitte?«
    »Es hat etwas Lächerliches, wenn die Leute meinen, sie könnten den Dingen auf den Grund gehen, indem sie die Oberfläche abgrasen.«
    »Liebe Frau Hafner, es geht mir nicht um Erlösung. Sagen wir, ich habe einfach sehr viel Zeit. Ein Luxus, wie behauptet wird. Zeit genug, um Oberflächen abzugrasen.«
    »Gut. Wenn Sie meinen, Sie hätten ein Anrecht auf Erklärung, dann kommen Sie eben mit. Gähnmaul hat mich angerufen. Er will mir etwas mitteilen. Etwas Erleuchtendes, wie er sagte.«
    »Gähnmaul!« rief Vavra aus. »Sehr wahrscheinlich ist das unser Doppelmörderchen.«
    »Lassen wir uns erleuchten«, meinte die Frau hinter der Sonnenbrille.

11|  Finale mortale
    »Reinspaziert!« forderte Gähnmaul, dessen Gestalt sich im Gegenlicht als ein schlanker, dunkler Fleck abzeichnete. Hafner und Vavra stiegen

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