Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
nicht wert wäre. Ich betrachtete die Löcher in der Mauer, im Bewusstsein, dass die schreckliche Begebenheit, von der Tonio mir erzählt hatte, wahrscheinlich genau hier stattgefunden hatte. Trotzdem konnte ich mir eine derart gewalttätige Szene an diesem friedlichen Ort nicht vorstellen. Das Dröhnen eines Motorrades brachte mich in die Gegenwart zurück. Es waren natürlich Massimo und Rebecca. Wir begrüßten uns, entfachten ein Feuer und setzten uns an den gleichen Ort wie am Vortag. Sie hatten Brot und Schinken mitgebracht und teilten bereitwillig mit mir.
Nach diesem leichten Mittagessen und einem Glas Wein erzählten sie mir, dass sie ein Wandgemälde auf die Wände des Zimmers nebenan malten und dass sie es mir gern als Erstem zeigen würden. Sie begleiteten mich durch die Tür. Ich war überwältigt von der Farbexplosion auf den drei Wänden und der Zimmerdecke. Es war wirklich bemerkenswert. »Das ist das Ergebnis von zwei Jahren Arbeit«, sagte Rebecca stolz. »Wir hoffen, dass es die Zeit hier unbeschädigt übersteht, wie eine Flaschenpost … eine Botschaft des Friedens und der Liebe.«
»Weißt du«, fuhr Massimo fort und zeigte auf einige Personen auf dem Gemälde, »es ist unsere Geschichte. Rebecca kommt aus Albanien. Vor drei Jahren haben sich ihre Eltern entschlossen, sie aus dem Hunger und dem Elend zu retten, indem sie sie auf ein geheimes Auswandererboot gebracht haben. Nach einer Irrfahrt wurde das Boot im Süden, in Apulien, ans Ufer geschwemmt. Rebecca und die andern wurden von den italienischen Behörden gefasst und in ein Lager gesteckt, um sie wieder nach Albanien zurückzuschicken. Aber jemand drehte eine Reportage über diese Flüchtlinge. Sie wurde im Fernsehen ausgestrahlt, und von Rebecca erschien eine Großaufnahme. Da sah ich sie das erste Mal. Ihr erschreckter Blick quälte mich die ganze Nacht so sehr, dass ich am nächsten Tag meine Ersparnisse zusammenkratzte und den ersten Zug nach Apulien bestieg. Als ich ankam, versuchte ich, zum Flüchtlingslager zu gelangen, aber es war unmöglich. Das Lager wurde vom Militär wie ein Gefängnis bewacht.
Zum Glück fand ich einen Arzt, der auf dem Weg ins Lager war, und bettelte, er solle das Mädchen, das zwei Tage zuvor angekommen war, zum Ausgangstor kommen lassen. Vielleicht erweckte meine Jugend sein Mitleid, ich weiß es nicht. Auf alle Fälle tat er etwas noch Besseres – er nahm mich mit, unter dem Vorwand, ich sei sein Sohn. Ich fand Rebecca unter einem Olivenbaum sitzend. Sie war noch schöner als im Fernsehen. Den Rest der Geschichte kannst du dir denken. Der Telefonanruf an meine Eltern, damit sie uns halfen – natürlich waren sie besorgt und ein bisschen ungläubig -; meine Hartnäckigkeit gegenüber den unvermeidlichen Hindernissen; Rebeccas Auslösung aus dem Lager und die vorläufige Übersiedlung in die Wohnung eines Freundes. Und dann die große Hilfe: Mein Vater ließ die ganze Familie nachkommen und gab Rebeccas Vater eine Stelle in seiner Keramikfabrik.« Alle Einzelheiten der Geschichte waren auf den Wänden dargestellt. Es war eine genaue, geduldige Arbeit, aber das Ergebnis war erstaunlich und beeindruckend.
Massimo und Rebecca waren sichtlich zufrieden, als sie die Überwältigung auf meinem Gesicht sahen. »Wir haben die letzte Wand frei gelassen, um etwas anderes darauf zu malen«, sagte Rebecca.
»Hast du eine Idee?«
Ich wusste die Antwort sofort. »Ja, die habe ich!«
Wir gingen zur Feuerstelle zurück und setzten uns. Ich erzählte ihnen Tonios Geschichte. Am Ende, als ich die Fotografie aus meiner Tasche zog und ihnen zeigte, sprang Massimo auf. »Fantastisch«, rief er mit der spontanen Begeisterung eines Siebzehnjährigen. »Wir könnten die Fotografie mit unserer Spritzpistole vergrößert auf die ganze Fläche übertragen und dann deinen Freund einladen und sie ihm zeigen!«
»Hmm«, sagte ich zweifelnd. »Ich weiß nicht, ob er bereit ist, hierher zurückzukommen.«
Ihre Gesichter verdüsterten sich. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihre Begeisterung gedämpft hatte. Rasch fügte ich hinzu: »Wir können es ja versuchen. Beginnt mit der Arbeit, und ich werde mich erkundigen, was Tonio dazu sagt.«
An jenem Abend fand ich Tonio, als er einer Gruppe alter Männer zuschaute, die bei Neonlicht in der Bar Karten spielten. Als er mich sah, lächelte er.
»Sag nichts«, kam ich ihm zuvor. »Ich möchte nur zwei Sachen von dir wissen. Erstens, ob du die Fotografie sehen willst. Und
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